Gesellschaft | Kirche

Vom Tabu-Thema zur Aufarbeitung

Die jahrzehntelange Tabuisierung von Missbrauchsfällen in der Kirche verhinderten eine Aufarbeitung. Nun ist der Zeitpunkt gekommen, um das Schweigen zu brechen.
Pater Hans Zollner
Foto: Diözese Bozen-Brixen/ohn
Das Ende Jänner veröffentlichte Gutachten zum sexuellen Missbrauch in der Erzdiözese München und Freising schlug auch in Südtirol hohe Wellen und setzte die Diözese Bozen-Brixen unter Druck. So forderte unter anderem das Team K eine umfassende Aufarbeitung in Südtirol.
Im Rahmen einer internen Weiterbildung für Verantwortliche der Diözese, der Ordensgemeinschaften sowie der kirchlichen Vereine und Verbände wurden am Freitag (4. März) die Möglichkeiten und Grenzen der Aufarbeitung von Missbrauch in der Kirche aufgezeigt. Salto.bz hatte die Gelegenheit, mit dem Referenten der Veranstaltung, dem Jesuitenpater und Psychologen Hans Zollner, zu sprechen. Zollner gilt als einer der wichtigsten Berater des Papstes zum Thema Missbrauch in der Kirche.
 
Salto.bz: Herr Zollner, in den USA und Kanada sind die ersten Missbrauchsfälle vor rund 40, 50 Jahren bekannt geworden. In Deutschland und im Zuge dessen auch in Südtirol wurden die ersten Anstrengungen hinsichtlich einer Aufarbeitung erst vor rund zehn Jahren in Angriff genommen. Warum diese Verzögerung?
 
Hans Zollner: Das hängt in erster Linie damit zusammen, wie in einer Gesellschaft grundsätzlich über Sexualität und sexuelles Fehlverhalten gesprochen wird. Die Kirche steht dabei nicht außerhalb des gesellschaftlichen Kontextes. Und in Italien war dieser Zeitpunkt einfach noch nicht gekommen. Bisher zumindest.
 
Nun ist der Zeitpunkt da?
 
Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen.
 
Manche glauben nichts mehr.
 
Sie sind Kinderschutzexperte und Leiter des internationalen Safeguarding-Instituts (IADC) in Rom. Was darf man sich darunter vorstellen?
 
Das Safeguarding-Institut an der Pontificia Università Gregoriana ist ein akademisches Bildungs-, Ausbildungs- und Forschungsinstitut. Die Ausbildung besteht aus einsemestrigen Diplomkursen in Safeguarding, in denen es nicht nur darum geht, was Missbrauch ist, wie man auf die Opfer zugeht, wie man mit Tätern umgeht und wie man eine sichere Institution schafft, sondern auch um theologische Fragen, wie beispielsweise, was Missbrauch im Rahmen der Kirche bedeutet, was er mit dem Glauben von Menschen macht und wie man Angebote an Missbrauchsopfer so formulieren kann, dass sie angenommen werden können. In einem zweijährigen Master-Studiengang in Safeguarding werden Personen ausgebildet, die in Diözesen und anderen Institutionen Verantwortung für die Bereiche Prävention und Intervention übernehmen. Zusätzlich werden Doktoratsstudien angeboten und ein E-Learning-Programm, das gemeinsam mit den weltweiten Partner-Instituten gestartet wurde und vorort ergänzend zu Schulungen genutzt werden kann. Es ist ein hervorragendes Instrument, um Bewusstsein und Kompetenzen zu schaffen. Daneben gibt es eine Reihe von Forschungsprojekten, die sich beispielsweise um die Frage drehen, was sich Missbrauchsopfer aus spiritueller Sicht erhoffen – wo immer sie in ihrem Glauben stehen. Manche glauben nichts mehr, manche sind keine Christen mehr, manche haben einen anderen Glauben gefunden, manche wiederum sind Katholiken geblieben. Wir gehen unter anderem der Frage nach, welche spirituelle Wunde der Missbrauch durch einen Angestellten der Kirche geschlagen hat und welche Bedürfnis spiritueller Art in der Folge entstehen.
 
Gehe ich recht in der Annahme, dass das Verhältnis zur Institution Kirche infolge eines Missbrauchs nachhaltig zerrüttet wird? Bzw. sich die Opfer nicht nur von der Institution abwenden, sondern auch von Gott?
 
Das glaube ich ehrlich gesagt nicht. Aber beweisen lässt sich weder das eine noch das andere. Die Dunkelziffer an Missbrauchsopfern in der Kirche ist nämlich vermutlich weit höher, als uns bewusst ist. Diese halten aber weiterhin an Gott fest, weil sie erstens in Gott eine Hoffnung haben, dass etwas „Heil“ wird, was zerbrochen war, und zweitens, weil sie zwischen Gott und dem Repräsentanten Gottes differenzieren.
 
 
Sie sind nach Bozen gekommen, um mit der Diözese, Ordensgemeinschaften sowie kirchlichen Vereinen und Verbänden über Missbrauch zu sprechen. Wie groß war der Gesprächsbedarf bzw. können Sie etwas über den Inhalt dieser Gespräche sagen?
 
Die Diskussion war sehr frank und frei und hat in einem guten Miteinander stattgefunden. Somit bin ich guter Hoffnung, dass dieser Beitrag dazu dient, dass die Leute dran bleiben. Hier geht es nämlich nicht um ein Thema, das morgen vorbei sein wird.
Ich habe zwei Impulse gegeben: Der eine war Aufarbeitung und was damit gemeint ist. Im Duden gibt es beispielsweise sechs verschiedene Bedeutungsnuancen und es ist nicht immer klar, was damit gemeint ist. Die rechtliche Aufarbeitung ist nur eine davon, eine andere ist die wissenschaftliche. Wir stehen in der öffentlichen Diskussion vor einem Problem, und zwar versteht jeder etwas anderes unter dem Schlagwort „Aufarbeitung“. Es war deshalb wichtig, darauf hinzuweisen, dass am Beginn eines solchen Prozesses definiert werden muss, was damit meint ist. Weiters habe ich aufgezeigt, dass es Grenzen in der Aufarbeitung gibt.
Nicht jeder kann alles tun. Das heißt, dass man auch Experten von Außen braucht. Zudem muss man darauf hinweisen, was an Positivem bereits geschehen ist, ohne zu leugnen, dass sehr viel noch im Argen liegt. Das in den Medien zu kommunizieren, ist allerdings nicht ganz einfach.
 
Kann man die von Ihnen angesprochene Dunkelziffer quantifizieren?
 
In der Fachliteratur wird davon ausgegangen, dass die Dunkelziffer an Missbrauchsopfern acht bis zehn Mal höher ist als die bekannten Fälle.
 
Man wird nicht alle Täter zur Rechenschaft ziehen können.
 
Wo liegen die Grenzen in der Aufarbeitung?
 
Man wird zum einen nicht alle Täter zur Rechenschaft ziehen können. Viele sind bereits tot, eine ganze Reihe ist dement, zu krank oder zu alt. Rechtlich gesehen wird es sehr viele Fälle geben, die längst verjährt sind. Hier kann weder der Staat noch die Kirche etwas tun, wobei es in der Kirche sogar die Möglichkeit gibt, in schweren Fällen die Verjährungsfrist aufzuheben – dies geschieht mitunter auch. Man kann also über einen Missbrauch Bescheid wissen, ohne auch nur irgend etwas tun zu können, geschweige denn die Täter zur Rechenschaft ziehen zu können. Weiters wird es DIE Gerechtigkeit, die wir uns vorstellen, auf der Erde nie geben. Man muss sich darüber im Klaren sein, was Aufklärung und Aufarbeitung bewirken können. Deshalb muss den Betroffenen, den sekundär Betroffenen und den Pfarreien ein breites Begleitangebot zur Verfügung gestellt werden.
 
Ende Dezember wurde in der Diözese Bozen-Brixen eine geplante Studie zu Gewalt und Machtmissbrauch in der Kirche gestoppt. Die Rezeption in der Öffentlichkeit war dementsprechend negativ. Wie sinnvoll wären Studien? Wie wichtig Präventionskonzepte?
 
Wir sprechen hier von zwei verschiedenen Dingen. Studien sind sinnvoll, weil man wissen muss, worüber man spricht. Was Präventionskonzepte betrifft, erwarte ich mir dagegen nicht sehr viel Neues. Aus den bereits ausgearbeiteten Konzepten geht nämlich klar hervor, was getan werden muss. Eine Studie benötigt man, wenn man wissen will, was geschehen ist. In dem Zusammenhang könnte für Südtirol interessant sein, ob und welche Spezifika vorhanden sind. Gibt es beispielsweise in einer Region wie Südtirol, wo verschiedene Kulturen nebeneinander leben, Unterschiede zwischen den Gemeinschaften. Wurde unterschiedlich mit Anschuldigungen umgegangen? Gab es Häufungen von Missbrauchsfällen in einem Kulturkreis, im anderen aber nicht? Gibt es einen Unterschied zwischen den städtischen Zentren und den ländlichen Gebieten? Gibt es einen Unterschied zwischen dem hinteren Ahrntal und einem „quartiere popolare“? Das könnten durchaus Elemente sein, die für eine Studie in der Diözese Bozen-Brixen wichtig wären.
 
 
 
 
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gorgias

Wenn man den Bock zum Gärtner macht, nachdem er schon die Salatköpfe verspeisst hat in der Hoffnung, dass irgend wann einmal etwas nachwächst.

Solange die Kirche selbst einen entscheidenden Beitrag leisten muss, ob diese Missbrauchfälle aufgearbeitet werden, bleibt es eine Dauerverarsche der Opfer.

https://www1.wdr.de/nachrichten/erzbistum-koeln-kosten-gutachten-100.ht…

>Gehe ich recht in der Annahme, dass das Verhältnis zur Institution Kirche infolge eines Missbrauchs nachhaltig zerrüttet wird? Bzw. sich die Opfer nicht nur von der Institution abwenden, sondern auch von Gott?

Das glaube ich ehrlich gesagt nicht.<

Hier wird jemand beauftragt sich mit dem Thema zu beschäftigen, der sich nicht mit der Realität anfreunden kann.
https://www1.wdr.de/nachrichten/kirchenaustritte-nrw-rekordhoch-warteze…

Sa., 05.03.2022 - 12:45 Permalink

@GORGIAS
Ich muss dir in allen Punkten beipflichten!
Besonders die Aussage, dass wegen solcher "Vorkommnisse" sich niemand von der Kirche abwendet ist eine Ignorierung der Tatsachen!
Was sollen Studien zur Lösung des Problems und zum Schutz der Betroffenen beitragen? Ein rigoroses Vorgehen bei erwiesenen Fällen, wie bei dem religiösem Wahn im Ahrntal, wäre mehr als angebracht!

Sa., 05.03.2022 - 17:57 Permalink
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Johannes Engl

Antwort auf von Robert Zagler

Sie schreiben: "Ein rigoroses Vorgehen bei erwiesenen Fällen, wie bei dem religiösem Wahn im Ahrntal, wäre mehr als angebracht!"
Sie fordern etwas, was schon längst geschieht: die Frauen werden laut Medienberichten von der Staastanwaltschaft verfolgt, sitzen im Gefängnis und die Kinder sind an einem sicheren Ort.
Das Gericht ist der einzige richtige Ort für die Verfolgung der Straftäter*innen.
Was möchten Sie in dem Satz eigentlich sagen außer Polemik zu betreiben?

Sa., 05.03.2022 - 20:00 Permalink

Ich polemisiere nicht!
Ich verlange nur keine Sonderbehandlung der katholischen Kirche, in der das Kirchenrecht bis heute vor dem Strafrecht steht.
Die Kirche hat ihre Täter so lange vor dem Rechtsstaat geschützt, bis man sie nicht mehr belangen konnte. Im Mittelpunkt steht der Schutz der Kirche, nicht das Leid der Opfer. Daran hat sich bis heute wenig geändert.

So., 06.03.2022 - 07:56 Permalink