Kultur | Ein Sommerbericht

Entwicklung durch Erinnerung

Bewährtes Wissen und seine Weiterentwicklung bei zeitgenössischen Architekturformen: Eine Reise und Beobachtungen
Hinweis: Dies ist ein Partner-Artikel und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.
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Foto: Bianca Susanna Leitner

Text: Bianca Susanna Leitner


In Zusammenarbeit mit der Architekturstiftung Südtirol / in collaborazione con la Fondazione Architettura Alto Adige.

 

Der Hochsommer zeigt sich im schweizerischen Valsertal von seiner eindrucksvollsten Seite. Auf den umliegenden, über dreitausend Meter hohen Bergen streckt sich das sattgrüne Wiesland dem blauen Himmel entgegen. Ganz in der Nähe plätschert ein Bach. Das Haus, von dessen Dachgeschosszimmer aus ich auf das Dorf und die umliegenden Bergspitzen blicke, liegt sanft im Hang. Im Dorfzentrum schmiegen sich die Traufen der Satteldächer aneinander. Weiter oben an den Berghängen wachen vereinzelte Maiensäße über den Dorfmittelpunkt. Sie teilen sich die Almwiesen mit den Steinbrocken, die einst von den Berggipfeln in Richtung Tal herabgefallen waren.

 

Die Dachlandschaft zeichnet zusammen mit dem Gebirge ein Bild der Symbiose von Menschengeschaffenem und der Natur. Es genügt ein einziger Blick, um zu erkennen, dass jedes Dach mit demselben Stein bedeckt ist. Die Farbe der Dächer und die der Steinbrocken am Berghang unterscheiden sich kaum. Sie ist heimisch – und deshalb vertraut. Es braucht einen zweiten Blick, bis mir auffällt, dass die Architekturen vor langer Zeit oder erst vor Kurzem erbaut wurden. Von oben sind sie jedenfalls alle gleichwertig. Einzig das Dach der Dorfkirche unterscheidet sich von denen der anderen Häuser. Es ist eine klare Hierarchie, die zum Ausdruck kommt.

Traditionsbewusst zu bauen heißt nicht, sich der Weiterentwicklung zu verschließen

Beim Entlanggehen der Straßen zeigt sich: Die lokalen Werte haben hier seit jeher ihren Platz verteidigt. Das ortsübliche Wohnhaus wird durch einen Steinsockel mit darauf ruhendem Strickbau aus Kanthölzern beschrieben. Es wird von einem zumeist kleineren Wirtschaftsgebäude begleitet; der Holzaufbau besteht hier aus einfachen, stehenden Brettern. Diese Architekturform ist vielerorts in den Bergen mit regionalen Eigenheiten bekannt. Das kommt nicht von ungefähr. Sie passt sich den vorherrschenden Bedingungen an und bedient sich gleichzeitig der Materialien, die nicht weit transportiert werden mussten: Holz und Stein. Die Wahl ist also nicht nur die Naheliegendste, sondern auch der Grund, weshalb sich die Architekturen so selbstverständlich und zeitlos in das Landschaftsbild einfügen. Sie altern im Gleichschritt mit ihrer Umgebung. Der Beobachter findet sich in einer vertrauten Atmosphäre wieder. „Städtische“ Architekturformen wären hier schlichtweg fehl am Platz. Nur vereinzelt sind sie versucht worden. Der orangefarben verputzte Ziegelbau, an dem ich vorbeikomme, passt nicht zu dem sonst so homogenen Ortsbild. Er wirkt völlig fremdartig. Dabei finde ich, dass sich zeitgemäßes Bauen und Tradition eigentlich nicht ausschließen.

ein Bild der Symbiose von Menschengeschaffenem und der Natur

Außerhalb des Dorfzentrums, ein paar Straßenkurven weiter oben am Berg, gibt es Architekturen, die beiden Ansätzen gleichermaßen Platz lassen. Ein ehemaliges Wirtschaftsgebäude wurde vor dem Verfall gerettet, saniert und dient nun als Wohnhaus für eine Familie. Der erneuerte Holzaufbau ist noch hell und jung. Das bestehende Bruchsteinmauerwerk wurde ausgebessert und somit für die nächsten Jahrzehnte, vielleicht sogar Jahrhunderte, gerüstet. Die ursprüngliche Materialität und Form sind erhalten geblieben. Nur die Nutzung hat sich geändert. Der Charakter aber muss für die Bewohner wohl unverändert spürbar sein.

 

 

Nur ein kurzes Stück weiter reiht sich ein junger Blockbau zwischen die Alten. Auch hier ist die natürliche Schwärzung des Holzes durch das Sonnenlicht bisher nur wenig vorangekommen. Der Strickbau hockt diesmal auf einem Sichtbetonsockel, der sich im Farbton zwar merklich, aber nicht störend vom üblichen Mauerwerk unterscheidet. Der First des Hauses ist in Richtung Tal gerichtet. Unter dem Giebel ist in die Außenwand ein großes Fenster eingestrickt. Ich stelle mir den hölzernen Innenraum dahinter vor und staune, wie das Fenster wohl wunderbar den atemberaubenden Blick auf die Berge rahmen muss.

Den Abschluss des Tals bildet ein Stausee, dessen türkisblaues Wasser ruhig im Sonnenlicht schimmert. Die Staumauer hält seit über sechzig Jahren den gewaltigen Wassermassen stand. Von der Mitte der Mauer aus lässt sich ein Großteil des Tals überblicken. An den Berghängen sind bisweilen nur noch wenige Maiensässe vorhanden. So hoch ins Tal zu gelangen, hat lange Zeit große Anstrengung bedeutet. Die Traditionen wurden aber bis nach oben gebracht.

Die lokalen Werte haben hier seit jeher ihren Platz verteidigt

Die Architektur hier besitzt eine spürbare Seele. Heimelig, ehrlich, bescheiden, bewusst. Die Wohnhäuser spiegeln die Bedürfnisse ihrer Bewohner wider. Traditionsbewusst zu bauen heißt nicht, sich der Weiterentwicklung zu verschließen. Alte Werte können auch bei neuen Bauwerken zeitgemäß und respektvoll eingebracht werden. Das Interesse an traditionsbewusstem Bauen ist greifbar. Eines wird aber stets dasselbe bleiben: Die steinernen Dachplatten.