Letzte Woche wurde Jürgen Wirth Anderlan wegen Rufschädigung und Verletzung der Ehre der ehemaligen Landtagspräsidentin Rita Mattei zu einer Geldstrafe von 1.000 € und einer Schadensersatzzahlung von 10.000 € verurteilt. Hinzu kommen die Prozessspesen. Gegenstand des Gerichtsurteils war ein Facebook-Post, in dem der Angeklagte Matteis Frisur als „Vogelnest“ und die Landtagspräsidentin als „Präsidentin für Vogelnester“ beschrieb.
Diese exemplarische Geldstrafe für beleidigende Äußerungen hat mich erstaunt und positiv beeindruckt. Ist doch die Haarpflege von Frauen immer wieder Gegenstand von Kritik, vor allem mangels Argumente, um ihre beruflichen Kompetenzen und ihre Glaubwürdigkeit in Frage zu stellen. So werte ich dieses Urteil doch als Zeichen des Wandels der Zeit. Abrupt lande ich aber wieder auf dem Boden der Tatsachen, als mir, im selben Zeitraum, ein Gerichtsurteil vorliegt:
Nach einer Beziehung, die sich durch psychische Gewalt an der Partnerin und ihren Kindern auszeichnet, verweigert der Mann das Ende der Beziehung. Er zieht erst durch den Einsatz der Ordnungskräfte aus der Wohnung der Frau aus und beginnt dann umgehend mit seinem Stalking (Verfolgungstaten). Über ein Jahr lang kontaktiert er sie täglich, auch 20 Mal, telefonisch und schriftlich, ruft wiederholt an ihrem Arbeitsplatz und bei der Arbeitsgeberin an, wird bei öffentlichen Arbeitsanlässen vorstellig, droht mit Selbstmord, passt die Frau vor ihrem Haus ab, stalkt ihre Kinder und Bekannte. Das Ganze hat System, wurde der Mann doch bereits in der Vergangenheit wegen psychischer und physischer Misshandlungen verurteilt und hält selbst in der Prozessphase noch an seinem Verhalten fest. Auf die Frau hat dieses Stalking weitreichende Folgen: Sie lebt in Angst um sich und ihre Familienmitglieder, schränkt ihre Bewegungsfreiheit und Beziehungen ein, nimmt Medikamente, leidet unter Schlaflosigkeit, ist in psychologischer und traumatologischer Behandlung, verliert Arbeitstage, hat Panikattacken und muss ihre Lebensgewohnheiten radikal ändern.
Zum Urteil jetzt: Staatsanwaltschaft und Verteidigung des Täters einigen sich auf einen Schadensersatz von 1.500 €, auf die Übernahme der Prozesskosten, auf 80 Stunden gemeinnütziger Arbeit anstelle der ausstehenden Haftstrafe und auf die Teilnahme an einem Antigewalttraining. Im Gegenzug werden Kontakt- und Annäherungsverbot aufgehoben (!).
Anscheinend ist es mit dem Wandel der Zeit nicht so weit, wie es das erste Urteil vermuten lässt. Oder es gibt ganz einfach zweierlei Maß. In welchem Verhältnis stehen die Traumata-Folgen von monatelangem Stalking durch einen nahestehenden Mann im Vergleich zu einer einmaligen Beleidigung durch einen nahezu Unbekannten? Basiert der gewichtige Unterschied der genannten Verurteilungen auf dem Gesetz oder auf der Auslegung der Gerichtsbarkeit? Welche Rolle spielen dabei Sichtbarkeit und Bekanntheitsgrad der Beteiligten? Welche Rolle spielt dabei die Kompetenz (Sensibilität) gewalttätiges Verhalten und das Risiko für Leben und Gesundheit der Frau dementsprechend einzuschätzen?
Vor allem aber frage ich mich: Können wir es uns als Gesellschaft tatsächlich erlauben, einer Frau in Gewaltsituation eine solch himmelhochschreiende Ungerechtigkeit zu vermitteln? Und umgekehrt: Können wir es uns erlauben, einem gewalttätigen Mann zu vermitteln, Stalking und häusliche Gewalt seien tolerierbarer als eine beleidigende Bemerkung?