Vorwärts in die Vergangenheit
Walter Obwexer und Esther Happacher sind keine Mediziner. Dennoch haben sich die beiden eingehend mit einer Frage beschäftigt, die manch einer sonst nur von einem Arztbesuch kennt. “Wie geht es uns denn heute?”, haben sich die beiden an der Uni Innsbruck tätigen Rechtsprofessoren gefragt – und meinen damit Südtirols Autonomie.
Es war im Frühjahr 2013, als die damalige Landesregierung unter Luis Durnwalder Obwexer und Happacher beauftragte, die Entwicklungen der Autonomie seit der Streitbeilegung zwischen Italien und Österreich im Jahr 1992 aufzuarbeiten und zusammenzufassen. Vier Jahre später liegt das Ergebnis vor: Ein 600 Seiten starkes Gutachten, das die beiden Innsbrucker Wissenschaftler am heutigen Dienstag gemeinsam mit Landeshauptmann Arno Kompatscher vorstellten.
Mehr und weniger Kompetenzen
“Die Autonomie hat sich seit 1992 verändert, Bestimmungen und Kompetenzen sind ausgehöhlt, reduziert oder auch ausgeweitet worden. Wir wollen einen aktuellen Überblick über das geltende Autonomieregelwerk erhalten, um eine wissenschaftlich fundierte Grundlage für die weiteren Verhandlungen mit der Regierung Letta zu haben.” Mit diesen Worten erklärte Landeshauptmann Durnwalder Ende Mai 2013 die Absicht hinter dem Gutachten. Die Regierung Letta ist Geschichte, die Verhandlungen mit Rom werden hingegen auch nach den bevorstehenden Parlamentswahlen weiter gehen – müssen.
Grund dafür ist zum einen, “dass bereits 1992 klar war, dass unsere Autonomie kein statisches Modell bleiben darf, sondern sich an geänderte Rahmenbedingungen anpassen muss, weil sie sonst immer mehr an Wert verliert”, wie Arno Kompatscher ausführte. Und zum anderen belegt die Autonomie-Studie, dass in den vergangenen 25 Jahren in gar einigen Bereichen autonome Kompetenzen eingeschränkt worden sind. “Zahlreiche Zuständigkeiten wurden im Laufe der Jahre an die Europäische Union übertragen, aber auch durch die Rechtssprechung des Verfassungsgerichtshofes haben sich einige Spielräume unserer Gesetzgebung verschlechtert”, so der Landeshauptmann.
Die Erkenntnisse des Gutachtens in Kurzform erläuterte schließlich Esther Happacher: “Gewisse Kompetenzen, wie der Landschaftsschutz im engeren Sinn oder die Seilbahnen, haben seit 1992 keine wesentlichen Veränderungen erfahren. Dann gibt es Kompetenzen, die vor allem aufgrund von Durchführungsbestimmungen erweitert wurden. Zum Beispiel im Bereich Energie, Straßen oder Lehrer. Auch durch die Verfassungsreform von 2001 gab es umfassendere Befugnisse, etwa im Tourismus. Gleichzeitig wurden 2001 auch einige Kompetenzen eingeschränkt: Unter anderem wurden Ämterordnung, Personal, Raumordnung und Umweltschutz zu ausschließlichen Zuständigkeiten des Staates erklärt. Und schließlich gibt es eine vierte Gruppe von Kompetenzen, bei denen es sowohl Erweiterungen als auch Einschränkungen gegeben hat. So ist für die Berufsbilder im Tourismus inzwischen ausschließlich der Staat zuständig.” Zahlenmäßig hielten sich die Einschränkungen und Ausdehnungen der autonomen Kompetenzen während des letzten Vierteljahrhunderts die Waage, so Happacher.
Standard 1992
So weit, so gut. Um zu erklären, was mit den “wenig revolutionären Erkenntnissen”, wie der Landeshauptmann die Ergebnisse der Analyse betitelte, nun gemacht werden soll, griff Arno Kompatscher auf die Worte seines Vorgängers zurück: “Wir haben nun detailliert und rechtswissenschaftlich fundiert aufgelistet, welche unserer Kompetenzen ausgebaut beziehungsweise eingeschränkt wurden und können damit in künftige Verhandlungen gehen.” In jenen Bereichen, in denen Zuständigkeiten weniger geworden sind, soll interveniert werden, so Kompatscher. Denn Italien ist, wie Obwexer und Happacher bestätigten, völkerrechtlich verpflichtet, Kompetenzbeschneidungen gegenüber 1992, denen nicht Unionsrecht zugrunde liegt, wieder herzustellen.
“In allen Bereichen, in denen wir bereits Zuständigkeiten haben, sollen diese weitestgehend ausgeschöpft werden”, betonte der Landeshauptmann, “entweder durch Durchführungsbestimmungen oder gegebenenfalls mit Verfassungsgesetz”. Als Beispiel nannte er die Umwelt. Dabei soll gemeinsam mit Wien und Rom vorgegangen werden. Die beiden Staaten sind bereits über die Studie informiert. Erste Schritte für ein bilaterales Vorgehen, um die Wiederherstellung des Autonomiestandards von 1992 zu erreichen, will Kompatscher bereits am Sonntag beim großen Festakt zu 25 Jahren Streitbeilegung setzen.
In Kürze soll das Autonomie-Gutachten übrigens in vollem Umfang online gestellt und damit allen Interessierten zugänglich gemacht werden.