Kultur | SALTO Weekend

Gefährlich nah

Der Film von Andreas Pichler zu den vielen Bären-Geschichten im Trentino flimmert derzeit über zahlreiche Kinoleinwände. Und er flimmert in den nächsten Wochen weiter.
Bär
Foto: gebrueder beetz filmproduktion
  • Schreie im Gelände, sphärische Klänge, Taschenlampenlicht und dann die Aussagen: Die Natur birgt Gefahren. Im Vergleich zur Natur sind wir schwach. Sie lässt uns keinen Ausweg. Suchtrupps durchkämmen den Wald. Durchforsten die Gegend. Mit diesen Statements und Bildern eröffnet Andreas Pichler seine filmische Spurensuche in Gefährlich nah – Wenn Bären töten, eine Doku, die gegenwärtig viele Menschen ins Kino lockt. Zunächst im Dunkeln tappend, verzahnt Pichler das nächtliche Aufstöbern mit emotionalen Aussagen der Eltern des im April 2023 von Bärin JJ4 getöteten Waldläufers Andrea Papi im (zu Südtirol) gefährlich nahen Trentino. 

  • Im Dunkeln: Wie kann (bzw. könnte) ein ordnungsgemäßer und friedlicher Umgang mit Bären gelingen? Foto: gebrueder beetz filmproduktion

    Anhand dieses an Tragik kaum zu überbietenden Tatbestands angelt sich die Doku entlang eines unsicheren Waldlaufs, nimmt Umwege und Abkürzungen, macht manchmal mit atemberaubenden Aufnahmen Rast für eine kurze Verschnaufpause, zeigt verschiedene Sichtweisen auf und behält (sofern das möglich ist) den objektiven Überblick, indem sie den Tod Papis als Zäsur verankert, um von dort aus das "Vorher" präzise zu erläutern oder wenig später das "Nachher" penibel zu dokumentieren. Ist die Zeitleiste ein dramaturgischer Kunstgriff? Nicht immer. Sie ruft das Passierte mit tödlichem Ausgang regelmäßig in Erinnerung, in großen Lettern, auf die Landschaft.
    Nach Das System Milch (2017) und Alkohol – Der globale Rausch (2020) ist der Kino-Dokumentarfilm Gefährlich nah – Wenn Bären töten weniger Gesellschafts- und Wirtschaftskritik, sondern eher eine mit Crime versponnene Erzählung dessen, was den Menschen – vor allem im Trentino – in dieser emotionalen Bärengeschichte (auch aus ethischer Sicht) unter den Nägeln brennt. Wie kann (bzw. könnte) ein ordnungsgemäßer und friedlicher Umgang mit Bären gelingen? Diese Frage glaubt man im Film immer wieder zu hören. Sie läuft als stummer Begleiter nebenher, denn einen solchen Umgang gebe es, sagen die einen, einen solchen werde es nie geben, die anderen. Der Filmemacher Pichler stellt Fakten dazu in den Vordergrund und zeigt die Menschen dahinter. Er legt das Dafür- und Dagegenhalten offen. Je nach Blickwinkel. 
     

    Wer ist gefährlicher für die Menschheit, Populisten oder Bären?  


    Im Rahmen des Wiederansiedelungsprojekt Life Ursus wurden Ende der 1990er Jahre Bären aus Slowenien ins Trentino gebracht. Der Film kann für diesen Rückblick und Startschuss mit gutem dokumentarischem Material aufwarten. Er zeigt die optimistischen Haltungen der Bären-Beauftragten, die mit viel Ergeiz und Einsatz für die große Freiheit der großen Tiere einstehen, dann aber norgedrungen den Tatsachen ins Auge sehen müssen, dass der über Jahre gutgemeinte Gedanke eines freundschaftlichen Zusammenlebens von Menschen und Bären auf zu engem Trentiner Raum aus den Fugen geraten ist. Der aufwendig gedrehte "Petz"-Film (gebrueder beetz filmproduktion) pendelt zwischen Macht und Ohnmacht, zeigt aufgebrachte Gemüter, Gegner und Befürworter, verärgerte Bauern und Bewohner. Auch gemäßigter und weniger gemäßigter Tierschutz-Aktivismus hat Platz im Film, gleich wie politische Meinungsmache. Bzgl. letzterem stellt sich zwangsläufig die Frage: Wer ist gefährlicher für die Menschheit, Populisten oder Bären? 

  • Der fabelhafte Meister Petz: Filmemacher Andreas Pichler stellt Fakten in den Vordergrund und zeigt die Menschen dahinter. Foto: gebrueder beetz filmproduktion

    Über naturwissenschaftliche Erkenntnisse und Interpretationsversuche arbeitet die Doku dem Scheitern von Life Ursus entgegen. War alles umsonst gewesen? Der Film lässt genau dort Fragen offen, wo viele am Stammtisch ihr Pauschalurteil schon längst gefällt haben. Andreas Pichler nicht. Er legt auf die Waage, immer wieder, lotet aus und präsentiert neben den wunderbaren Aufnahmen (Daniel Mazza) und nachvollziehbaren Kernsätzen, sogar eine mit dem Smartphone gedrehte Amateuraufnahme, die ein positives Aufeinandertreffen mit einem Bären belegt. Spannung pur. Mit dem als JJ1 als „Bruno“ bekannt gewordenen Bruder von JJ4 – er wurde 2004 in Bayern abgeschossen –, setzt der Film (neben der tragischen Eltern-Sohn-Episode) außerdem eine weitere familiäre Note. Es sind die Töne und Gegentöne die Gefährlich nah gefährlich gut und absolut sehenswert machen. 
     

    Ängste und Zweifel, Bären, Berge und bange Minuten. Und auch immer wieder Wut. Abschießen oder aussiedeln? 


    Vorsichtiges Vermitteln oder kapitulieren? Der Film reiht viele Für und Wider aneinander, lässt sie auflaufen, drauf los gehen, dann wieder schreiend-beklemmend verstummen – ob bei Manifestationen, Sensibilisierungsveranstaltungen oder einfach inmitten von archaischer Berglandschaft. Dazwischen viele Bären und vereinzelt die sogenannten „Problembären“. Sie schleichen durch das Bild oder geraten aus dem Fokus. Interessant auch die Einbettung eines Wildtierschutzprojekts, das sich im Schwarzwald um Wölfe und Bären kümmert. Die wilden (und seit eh und je als Kuscheltiere adaptierten) Bären leben hinterm Zaun, während andere mit aller Kraft nach Freiheit suchen und eine Gefahr bleiben. 
    Gefährlich nah – Wenn Bären töten legt die Karten auf den Tisch, um sich – nachdem neunzig Minuten Doku absolut fesseln – gerüstet mit Wissen (vor)urteilsfrei aufzumachen, in die "Freiheit", die eigene "Höhle."