Bühne | Tag der Frau

„Sich des Schmerzes nicht bewusst“

Flora Sarubbo im Gespräch zu ihren beiden aktuellen Produktionen, „No solo questo, ma anche“, sowie „Mare Amaro“ über Gewalt an Frauen und Aufträge an uns alle.
Flora Sarubbo
Foto: Flora Sarubbo
  • Frau Sarubbo, Sie haben zum 8. März ein spannendes Projekt mit Schülerinnen und Schülern gestaltet. Sind Sie dieses mit einer klaren Vorstellung angegangen oder wurde „No solo questo, ma anche“ auch an den Schulen geprägt?

     

    Flora Sarubbo In diesem Projekt, in dem ich in den Schulen arbeite, kommen natürlich auch einige Fragen dazu auf, wie die Mädchen, aber insbesondere auch die Jungen mit dem Thema umgehen. Daher sind die Themen, die behandelt werden, Ergebnis meiner Arbeit an den Schulen, wo ich das Theater aktuell nutze, um die emotionale Intelligenz zu fördern und dafür eine Sprache zu vermitteln, weil das das ist, woran es an den Schulen am meisten fehlt. Darüber zu sprechen, wie es einem geht, wie man tickt und, was mit einem passiert.

    Daher war insbesondere die zweite Hälfte der Arbeit so gedacht, dass sie ein wenig davon ausgeht, was darauf die Antworten sind. Der Teil des Stückes zu Pornhub und so weiter ist damit wahr, die Informationen haben sie mir gegeben. Ich habe mich also wie eine Jugendliche mit dem Internet befasst und habe versucht, in diese Bilder und Welten hineinzugehen und bin mir bewusst worden, was das für eine Katastrophe ist. 

    Als Theater, das an verschiedenen Schulen aufgeführt wird, arbeiten wir automatisch mit den verschiedenen Feedbacks, die wir erhalten. Ich habe einige der Jugendlichen, die mich beim Umgang mit Pornhub angewiesen haben, wie sie ihre Sexualität leben und sie meinten: „Naja, wir schauen Pornhub.“, und das ist schon ziemlich explizit. 

     

    Hatten Sie das Gefühl, dass Sie mehr kritische Distanz im Umgang mit diesen Medien haben, oder gibt es das auch bei den Jugendlichen?

     

    Ich hatte nicht das Gefühl, dass die Jugendlichen auf dieselbe Weise ratlos sind, wie wir das vielleicht zu Beginn des Internets waren. Als ich zur Welt kam, gab es das Internet noch nicht und sie haben für den Umgang mit dem Internet eigene Instrumente entwickelt. Es ist aber klar, dass das immer auch mit dem Kontext zu tun hat in dem sie leben, ob die Eltern da oder abwesend sind und auch von der Schule.

    Stattdessen tut man so, als ob es Gewalt online nicht gäbe und den Jugentlichen fehlt folglich die Fähigkeit zwischen verschiedenen Dingen zu unterscheiden. Es ist klar, dass ich in meinem Alter das alles mit einem kritischen Blick betrachte, aber wenn die Schule und die Gesellschaft den Jugendlichen keinen Unterricht zu Themen der Sexualität und zu Emotionen gibt, dann werden sie auf die Suche gehen.  Wie sich eine alte Frau auf die Suche nach einem Rezept für Tagliatelle mit Sugo macht, so werden sie versuchen herauszufinden, wie man Liebe macht oder was diese magische Welt des Sex ist. Das ist das Problem. Das Problem ist nicht, was das Internet anbietet, sondern das, was Gesellschaft und Schule nicht anbieten. 

     

    Welches sind die Herausforderungen, wenn man sich im Theater mit den Themen Sexualität und Gewalt konfrontiert?  

     

    Die Vorteile sind, wie immer, dass wenn man die Dinge angeht, sie eine gewisse Dimension erhalten und der Umgang damit gelernt wird. Wenn ich also das Thema Sexualität angehe, kann das sowohl für die, die auf der Bühne sind, als auch für jene, die sich ein Stück ansehen, eine gemeinsame Sprache schaffen, die unser aller Sprache sein müsste, für die Frauen, die Männer, für wer sich liebt und wer Lust hat zu leben. Die Herausforderung ist es kritisch bei jenen Gedanken anzusetzen, die bereits existieren. Am Ende des Tages haben Monika und ich dann oft darüber gesprochen, wie es uns jetzt, in diesem Moment, als Frau geht. Die Antwort, die ich von vielen, meist jungen Mädchen auf diese Frage erhalten habe, war oft: „Mit all diesen Nachrichten von Femiziden und Gewalt habe ich Angst?“ Also haben wir uns auch selbst gefragt, ob wir uns fürchten, wenn wir nachts alleine nach Hause gehen, ob wir Angst vor unseren Partnern haben und welche Erfahrungen wir gemacht haben. Es ging darum, zuallererst einmal über uns zu sprechen, denn wovon sprächen wir sonst? Das Stück heißt auch deshalb „No solo questo, ma anche“, da die Aspekte, die mit dem Thema der Gewalt zusammenhängen, viele sind. Das ist nicht nur die Frau, sondern sehr häufig die Fragilität des Mannes, der fragiler ist als die Frau.

    Würden wir anfangen, die Sache auch so zu sehen und nicht nur Marco den Mörder zu sehen - der richtigerweise auch als Marco der Mörder anzusehen ist - dann können wir vielleicht verstehen wie was dahintersteckt.  

    Sagen wir, es ist nicht ganz leicht uns auf der Bühne in gewisser Weise auch nackt zu zeigen. Es gibt eine Kritik an die Schule und es wird Aufmerksamkeit auf die Eltern gerichtet, aber wir machen das, weil es das Richtige für unsere Kinder ist. Monika ist Mutter, Diletta ist Mutter, ich bin es nicht, aber wir haben das Thema Gewalt an Frauen auch aus diesem Winkel betrachtet. Wie geht man mit einem Jungen, mit einem Kind um? Verweigert man ihm Internet und Telefon? Auch die Verwendung von sozialen Medien ist ein Thema, etwa beim berühmten Chatverlauf nach einer Gruppenvergewaltigung in Palermo und wie einfach es ist, das Handy zu verwenden um monströse Dinge zu sagen. Was lernen die Jugendlichen daraus? Dass einen ein solches Verhalten berühmt macht, dass wir alle tausend Selfies machen müssen. Einige nutzen die sozialen Medien um über oder mit ihrem Opfer zu sprechen. Sie sind sich des Schmerzes nicht bewusst. 

    Ich denke, die Grenzen, die wir normalerweise haben, sind sehr labil innerhalb der Psyche eines Jugendlichen. Das ist etwas, worüber wir nachdenken sollten, dass es die Sprache der Jugendlichen ist, die es zu verändern gilt. 

  • Non solo questo: Flora Sarubbo in Szenenbildern der für den Tag der Frau ausgebuchten Aufführung. Wer ist es am Ende, dessen Fragilität das eigentliche Problem ist? Foto: Franco Silvestri

    Wenn wir den Femizid als den Endpunkt eines Spektrums der Gewalt an Frauen sehen, dann ist der Titel „No solo questo, ma anche“ als Hinweis zu verstehen, dass es verschiedene Formen von Gewalt gibt - physischer und nicht-physischer - die systematisch verübt werden. Ist das wichtiger als das Problem des Femizids?

     

    Der Femizid ist der offensichtliche Gipfel der Gewalt, die an Frauen, aber auch an Männern verübt wird. Für mich ist es sehr wichtig etwa auch auf die verbale Gewalt hinzuweisen, die wir, ohne es zu wissen, oft an Kindern verüben. Wenn ein Kind männlich ist, dann muss es stark sein und darf nicht weinen. Man legt eine gewisse Art von Männlichkeit vor, die einen fragil macht. Wenn man nicht genau diesem Bild entspricht, dann ist man gleich homosexuell oder hat Probleme, auch wenn das nicht stimmt. Wenn ein Junge über eine andere Sensibilität verfügt…

     

    Oder etwa Gedichte schreibt…

     

    …und wenn der Junge Gedichte schreibt oder vor einer Blume gerührt ist, warum sollte das ein Mann nicht tun? Ich finde, das ist eine weit verbreitete Form von „Form von Gewalt“, die Kinder und später Jugendliche erfahren, weil sie sich in einer Rolle wiederfinden, die sie nicht aushalten, was auch wieder zu Gewalt führen kann. Die Formen von Gewalt an Frauen sind viele, auch in der Sprache, die wir verwenden. Ich bin mir aber nicht siche, ob das die Hauptsache ist, ob das Gewalt an einer Frau ist, wenn man Anwalt statt Anwältin zu ihr sagt.

    Es gibt aber eine berühmte Werbung aus einer Kampagne zum 25. November, die in Ligurien verwendet wurde. Man sieht die nackten Schultern einer Frau, zwischen denen das Wort „fragile“ steht. Das ist Gewalt an Frauen, denn fragiler ist diese Gesellschaft, aus der Gewalt hervorgeht. 

    Auch die Tatsache, dass es in Italien immer noch einen Unterschied beim Strafmaß gibt, das ist Gewalt. Dass sich viele Frauen davor fürchten, Kinder zu haben, das ist Gewalt, denn es nimmt mir einen Teil meines Lebens, eine Möglichkeit des Lebens. 

    Gewalt in der Sprache, das gibt es auch in den Medien, wenn es Schlagzeilen gibt wie „violenta la donna, giovane e bella“. Ich verstehe das nicht, was hat das eine mit dem anderen zu tun hat. Gewalt in der Sprache besteht aus einer Reihe von Dingen und findet sich auch in der juridischen Sprache, etwa in der Frage, ob eine Frau es während der Gewalt genossen hat. Was soll das heißen? Auch wenn sie es genossen hat, was ändert das? Im berühmten Fall von Franca Rame, einer geschätzten Schauspielerin und die Frau von Dario Fo war, wurde solche Sprache verwendet. Das war in den 70ern, es hat sich nichts geändert. Der europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat 2021 Italien für einen Freispruch nach einer Gruppenvergewaltigung verurteilt.

  • Mare Amaro: Flora Sarubbo (links) mit Diletta La Rosa, mit der gemeinsam das Stück geschrieben wurde und interpretiert wird. Foto: Anna Cerrato

    Wenn wir einen Moment zu „Mar Amaro“ weitergehen, das auf Vergas „I Malavoglia“ basiert. Welches sind die Themen, da es sich um eine der ersten Sozialstudien in der Literatur handelt, wegen denen es sich lohnt, diesen Stoff heute zu bearbeiten?

     

    Vielleicht ist das erste Thema, um das es bei den Malavoglia geht, die Arbeit. Die Arbeit als Notwendigkeit des Lebens und des Überlebens, aber auch die Arbeit als ein Konflikt von Idealen. Wie sehr müssen wir unsere ganze Zeit der Arbeit widmen und wie sehr brauchen wir unseren Freiraum? Das ist auch der zentrale Konflikt zwischen Antonio und Padron ’Ntoni, seinem Großvater, der einer anderen Generation angehört. Der Großvater sagt, „komm zurück“ und Antonio hat in Neapel ein Leben kennengelernt, das nicht nur aus Arbeit besteht. Für die Malavoglia reicht ein schlechtes Jahr um all das, was sie sich erwirtschaftet haben, zunichte zu machen. Die Arbeit ist für mich ein sehr wichtiges Thema, weil wir einerseits auch die Notwendigkeit verspüren, auf der anderen Seite den Raum für uns vermissen. Mit der Ankunft des Mobiltelefons sind wir alle immer und überall erreichbar geworden.

    Das andere große Thema hat sicher auch mit Arbeit zu tun, es geht auch um die Suche nach Arbeit an einem anderen Ort. Wir stammen alle irgendwo von Einwanderern ab, von Leuten die kommen und gehen. Wo es einem nicht gut geht, geht man fort, so ist das Leben. Das waren einmal die Dörfer, die oft weit weg waren, heute sind die Ausgangspunkte andere. 

    In unserer Gesellschaft wird viel über die Suche nach Arbeit gesprochen und ich wünsche mir, dass es um die Suche nach Liebe geht. Das sind die zentralen Themen für mich. 

    Dann geht es auch um die Natur, die stärker ist als man selbst, auch wenn man Pläne macht und um die Themen der Tragödie. Der Fluch der Malavoglia wird auf der Familienebene weitergegeben.

     

    Was an der Übertragung auf die Schauspielbühne war am schwierigsten?

     

    Es war spannend den Text auf die Bühne zu bringen, da es ein Roman ist und wir zu zweit all diese Figuren spielen, andauernd die Hüte tauschen. Ich will nicht verschweigen, dass es auch Passagen gibt, die einen lächeln lassen, aufgrund der Unschuld von damals, wie uns alles einfacher erscheint, auch wenn es das nicht war. Dann gibt es Textstellen, die uns an eine Welt erinnern, die wirklich weit von unserer entfernt ist.

     

    Das Thema der Migration zur Arbeitssuche ist, auch um Ängste zu schüren, heute in den Medien stark präsent?

     

    Die Migration spielt auch aus einer modernen Sichtweise heraus eine Rolle. Auch vom Weggehen, vom Enkel, der fortgeht um zum Militär zu gehen und eine andere Welt vorfindet, handelt das Stück. Wie kann man einem jungen Mensch die Möglichkeit absprechen eine neue Welt zu entdecken. Da gilt das Gleiche, wie wenn ich fürs Studium nach Frankreich gehe. 

    In einem anderen Stück haben wir gesagt, dass wir nicht unsere Wurzeln sind. Aber wie stark sind wir verwurzelt? Unser Leben sollte aus Wanderungen bestehen, aus Füßen die vorbeigehen, kommen, umdrehen und gehen, aber nicht aus Wurzeln. Und wo sind diese Wurzeln? Hier in Südtirol bin ich nicht verwurzelt, meine Familie kommt zur Hälfte aus Neapel und zur Hälfte aus Pescara. Aus Arbeitsgründen bin ich hier, war lange fort und bin schließlich zurückgekehrt.

    Es kann aber auch Gefühle geben, die uns an einen Ort, an eine Tradition binden. Dann verbinden mich mit Südtirol die Berge, in Neapel werden es mein Herz und die Familie sein. Das sind aber keine Wurzeln. Man zieht aus, kehrt zurück, konfrontiert sich mit anderen und bricht wieder auf. Warum sollte jemand, der etwa aus dem Senegal kommt, nicht neugierig auf die Welt sein? Das ist ein wichtiges Thema, das uns alle betrifft. Ich selbst glaube, dass ich mich zu lange an einem Ort aufgehalten habe.

     

    Meine letzte Frage ist, da meine Lektüre der Malavoglia schon eine Weile her ist, haben Sie starke weibliche Figuren bei Verga ausmachen können?

     

    Die Frauen der Malavoglia sind wichtig weil sie, wie üblich, Wächterinnen der Arbeit und des Hauses sind. Es gibt aber auch etwas revolutionärere Frauen, die ihren eigenen Charakter haben, auch wenn das Werk eine eher Chorale Perspektive vertritt. Es geht um die Gesellschaft und nicht um eine männliche oder weibliche Gesellschaft in der es bestimmte Rollenverteilungen gibt. Wir sprechen von einem Italien, in dem es diese Rollen noch stärker gab, die uns bis heute erhalten geblieben sind. Dann gibt es Figuren, wie Marezzupita, die mehr auffallen. Sie hat ihren eigenen Charakter und geht zu Protesten, aber ich glaube nicht, dass darin der Wert des Werkes steckt.  Dieser liegt in den vielen schönen Charakterzügen der Figuren, sowohl der männlichen, als auch der weiblichen, die sich verändern und abwechseln. Es gibt verschiedene Frauen. Solche, die zuhause bleiben, die arbeiten, die ihrem Ehemann weiterhelfen und hinter ihm stehen, wie im Leben, im Grunde.

  • Die Vorstellung von „No solo questo, ma anche“ heute Abend im Bozner Waaghaus ist ausverkauft. Für die Aufführung von „Mare Amaro“ morgen Abend in Neumarkt sind noch Karten verfügbar.