„Jeder braucht sein guilty pleasure“

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SALTO: Welches Buch hat Sie in Ihrer Kindheit nachhaltiger geprägt, als Sie damals je geglaubt hätten?
Anna Gschnitzer: „Die Brüder Löwenherz“ – ich frage mich noch heute, wie es Krümel und Jonathan wohl geht und in welcher Welt sie gelandet sind. Das Buch hat mich damals tief beeindruckt, weil es Themen behandelt, über die Erwachsene nicht mit Kindern sprechen, die aber dennoch für Kinder spürbar sind. Der Tod, große Verluste und die Angst vor dem Unbekannten machen leider auch vor Kinderleben nicht halt.
Ich fand es damals wie heute extrem tröstend, wie liebevoll diese Kinder füreinander da waren – dass es ein Gefühl von Verbundenheit gibt, über den Tod hinaus.Welcher letzte Satz eines Romans ist und bleibt für Sie ganz großes Kopfkino?
Ehrlich gesagt musste ich in einigen meiner Lieblingsbücher blättern und nach einem Satz suchen. Schließlich fand ich einen letzten Satz in Annie Ernauxs „Die Jahre“.
Es ist aber nicht nur dieser eine Satz, der mich bei Annie Ernaux beschäftigt, sondern all die vielen davor – und wie großartig hier ein Leben erzählt wird, das sich in der Realität verankert, um aus ihr etwas anderes zu machen: nämlich Literatur, die schließlich wieder auf die Welt einwirkt. Und vielleicht damit genau das schafft:
„Etwas von der Zeit retten, in der man nie wieder sein wird.“
Manchmal lese ich Bücher sogar auf dem Handy. Es fühlt sich aber ziemlich falsch an und ich nehme mir ständig vor es nie wieder zu machen…
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Autorin und Theatermacherin: Anna Gschnitzer wuchs im Wipptal auf und lebt mit ihrer Familie in München. Sie studierte Vergleichende Literaturwissenschaft in Wien und Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst. In Wien schrieb sie auch – angeregt durch die Regisseurin und Theaterleiterin Marie Bues – ihre ersten Texte fürs Theater und arbeitete mit Bühnen der freien Szene zusammen. Ihre Stücke – sie verhandelt darin meistens Klassismus, Mutterschaft, Care-Arbeit, patriarchale Gewalt sowie Feminismus – wurden bisher u. a. am Schauspielhaus Wien, an der Schaubühne am Lehniner Platz, am Stadttheater Ingolstadt, an den Vereinigten Bühnen Bozen und am Theaterhaus Jena gezeigt. Ihre Texte erscheinen beim Theaterverlag Felix Bloch Erben in Berlin. Foto: Sima Dehgani
Reimen ist doof, Schleimen ist noch doofer… Auf welches – anscheinend gute – Buch konnten Sie sich nie wirklich einen Reim machen?
Der Zauberberg – ich werde einfach kein Fan von Thomas Mann. Für mich ist er zu bürgerlich und, vor allem, völlig humorbefreit. Sorry!
Ein Fall für Commissario Vernatschio. Wie erklären Sie einem Außerirdischen die geheimnisvolle Banalität von Lokalkrimis?
Ich: Hey Alien. Menschen müssen sich ihr Leben mit Erwerbstätigkeit verdienen und zusätzlich noch sehr viel unbezahlte reproduktive Arbeit leisten, vor allem Frauen. Leider ist die politische Lage global derzeit auch nicht besonders übersichtlich. Zur Erholung und Zerstreuung wünschen wir uns (unabhängig vom Geschlecht) daher etwas das uns nicht so überfordert, wie der Rest einer völlig aus den Fugen geratenen Welt.
Alien: No hard feelings, ich kann’s verstehen. Jeder braucht sein guilty pleasure.Gewichtig! Welchen Buch-Tipps schenken Sie noch uneingeschränkt Vertrauen?
Mareike Fallwickel postet viel gute Lesetipps, genauso der queerfeminitische Buchladen GLITCH in München. Auch die Buchtipps im Missy Magazin sind toll. Und natürlich die meiner Freundinnen.
Die Amygdala, zu Deutsch Mandelkern, zählt zu den ältesten Teilen unseres Gehirns. Wittert der Corpus amygdaloideum Gefahr, sendet dieser Signale, die zur Ausschüttung von Stresshormonen führen, um den Menschen entsprechend auf Flucht oder Kampf vorzubereiten. Nach einem Fahrradunfall liegt eine Frau bewusstlos auf der Straße und wird von ihrer Amygdala entführt – und das ist gnadenlos. Foto: Vereinigte Bühnen BozenWas für ein Fehlschlag! Welches Buch würden Sie auf einer einsamen Insel zurücklassen?
„Männer kommen vom Mars und Frauen von der Venus.“ Was für ein kompletter Bullshit.
Alles von Anita Pichler. Ich habe ihre Texte kennengelernt, als ich mich mit den Fanessagen auseinandergesetzt habe.
Das Rauschen des Blätterns. Welches Buch würden Sie auf keinen Fall am E-Book-Reader lesen?Eigentlich ist jedes Buch besser, wenn man es in Papierform liest. Aber auch hier muss man sagen: reality bites. Ich lese mittlerweile ziemlich häufig mit e-reader. Einfach weil es praktisch ist und man mit Kind leider eh schon so viel schleppen muss. Manchmal lese ich Bücher sogar auf dem Handy. Es fühlt sich aber ziemlich falsch an und ich nehme mir ständig vor es nie wieder zu machen…
Welches Buch zu Südtirol oder eines/einer Autors/Autorin aus Südtirol würden Sie unbedingt weiterempfehlen?
Alles von Anita Pichler. Ich habe ihre Texte kennengelernt, als ich mich mit den Fanessagen auseinandergesetzt habe. Sie hat in ihrem Buch „die Frauen aus Fanis“ mythologische Frauenfiguren aus diesen Südtiroler Sagen in ihrer ganzen Kraft und Verletzlichkeit sichtbar gemacht. Diese Frauenfiguren dürfen die gesamte Palette an Emotionen durchspielen – etwas, das extrem selten vorkommt.
Aber auch ihre anderen Texte haben mich sehr beeindruckt. Mit ihrer poetischen Prosa erschafft Pichler ganz eigene Welten und Atmosphären. Alles darin wirkt irgendwie surreal – und doch rückt gerade durch diese literarische Verzerrung die Welt ein bisschen näher.Die Entführung der AmygdalaWeitere Artikel zum Thema
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