Von der Tarantel gestochen

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Judith Waldmann: In den letzten Jahren hast Du Dich intensiv mit dem Phänomen des Tarantismus auseinandergesetzt. Wie bist Duauf die Thematik gestoßen?
Sophie Lazari: Das Thema Tarantismus hat mich immer schon interessiert, da mein Vater aus Apulien (Galatina) kommt und der Mythos genau da entstand – die Recherche dazu war also eine Reise zurück zu meinen Wurzeln. Für meinen Bachelor wollte ich mich einem Thema widmen, dass mir persönlich am Herzen liegt und das ich mit einer Reise verbinden konnte. Der Tarantismus beschreibt einen Mythos, der davon spricht, dass hauptsächlich weibliche Personen von einer Tarantel gebissen wurden, der in ihnen hysterische Reaktionen auslöste. Die tarantate (von der Tarantel Gebissenen) begaben sich in eine Art Trance in dem sie ein Ritual durchführten bei dem sie, von rhythmischen Trommelschlägen begleitet, stunden- wenn nicht tagelang tanzten. Sie glaubten, das Gift verließe somit ihren Körper und erhofften sich dadurch die Genesung. Manche der tarantate wurden den Erzählungen nach tatsächlich erlöst. An den Tagen des Hl. Petrus und Paulus (28. und 29. Juni) führten sie das Ritual öffentlich aus. Sie wurden auf Kutschen nach Galatina gebracht, und tranken dort das Wasser aus dem Brunnen des Hl. Paulus in der Kapelle, da man glaubte, das Wasser habe heilende Kräfte. Dann tanzten sie wie wild vor Publikum. Der Biss der Tarantel wurde zu einem Symbol kollektiven (weiblichen) Leidens: Heute ist klar, dass es nicht die Tarantel war, die in diesen Frauen diese hysterischen Symptome auslöste, sondern eher eine patriarchale Machtstruktur, die den Frauen jegliche Freiheiten entzog.
Tanz und Musik waren nicht nur eine Form der Unterhaltung bei den Bauern am Feld, sondern galten auch als die einzige Methode, um Menschen von Tarantismus zu heilen.
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Noch dazu kommt die Armut und das stundenlange Arbeiten auf den Tabakfeldern unter Extrembedingungen. Man sagt, dass viele der Frauen dort sexuell missbraucht wurden. Die wichtigste Dokumentation und Recherche zum Thema kennen wir von Ernesto de Martino, der mit seinem Film La terra del rimorso um 1950 das Phänomen filmte. Was mich besonders an diesem Thema interessiert, ist die Unterdrückung der Frau und ihres Körpers innerhalb einer patriarchalen Gesellschaft, und die Freiheit, die sie erlangt, indem sie als „verrückt“ abgestempelt wird sowie der therapeutische Heilungsaspekt durch Tanz, Musik und Trance. Meines Erachtens sind alternative Heilmethoden heute noch von Bedeutung, und ich finde es äußerst wichtig, diese Themen in meiner Praxis als Künstlerin wie auch als Frau aufzuarbeiten.
Du hast Dich dem Thema aus einer feministischen Perspektive gewidmet. Welche weiblichen Zuschreibungen oder welche Vorurteile gegenüber Frauen zeigen sich in dieser Mythenbildung?
Eigentlich hat der Tarantismus nichts mit Hysterie zu tun – ich habe in meiner Recherche jedoch beide Phänomene analysiert und verglichen und kam auf interessante Erkenntnisse. Das Wort „Hysterie“ kommt von Hystera, das so viel wie Uterus auf Altgriechisch bedeutet. Man glaubte, dass der Uterus in den Kopf hinauf gewandert sei – Frauen, die als hysterisch diagnostiziert wurden, steckte man Geweihe und andere spitze Gegenstände in die Geschlechtsorgane, um den Uterus wieder an seinen ursprünglichen Platz zu locken. Genauso wie die Hysterie ist der Tarantismus ein Mythos, eine Erfindung des Patriarchats, die Frauen zu Objekten reduzierte. Zu Objekten, die wie ein ungezähmtes Tier auf Grund ihrer Wollust und Ungezogenheit (im Gegensatz zum Mann, der als gebildet und wohlerzogen galt) hysterisch wurden. Dabei hatten diese Frauen einfach keine Freiheit. Sie waren dazu angehalten, zu gehorchen, komplett unterwürfig zu sein und eine Reihe an Kindern zu erziehen. Klar war, dass der einzige Weg in die Freiheit der Wahnsinn war: Als Verrückte musste man keine Regeln mehr befolgen.
Ebenso herrschte die Annahme, dass Frauen faule und wollüstige Wesen seien, deren ungezügeltes Verhalten eine Ablenkung und Gefahr für den gebildeten Mann darstellten. Meiner Meinung nach ist das eine Ausrede des Patriarchats, um sexuellen Missbrauch und Dominanz gegenüber dem weiblichen Geschlecht problemlos ausüben zu können.Im Gegensatz zu „herkömmlichen“ Behandlungsmethoden der Hysterie (das Einsperren in eine Anstalt und die brutalen körperlichen Eingriffe, die vor allem durch Jean Martin Charcot Anfang 1900 in seinen Studien an Frauen vorgenommen wurden), finde ich die Heilungsmethoden im Tarantismus eher beeindruckend. Die tarantata wurde akzeptiert, sie wurde nicht unbedingt versteckt, sondern war integraler Bestandteil einer Gesellschaft und man glaubte an ihre Genesung. Genauso hat die Kirche dazu beigetragen, alte Mythen und Traditionen zu konservieren und erlaubte die Durchführung eines eigentlich heidnischen Brauches. Tanz und Musik waren nicht nur eine Form der Unterhaltung bei den Bauern am Feld, sondern galten auch als die einzige Methode, um Menschen von Tarantismus zu heilen.
Aus Deiner Auseinandersetzung mit dem Tarantismus ist ein vielseitiger Werkkomplex entstanden, der das Thema künstlerisch aufarbeitet und vermittelt. Wie bist Du hier vorgegangen?
Es war ein Prozess. Das Buch war Grundlage und Ausgangspunkt, von dem aus ich dem Thema auch in anderen Medien Raum gab. Die Expansion meiner Arbeit sah vor, eine immersive Installation mit Textil und Sound zu bauen. Die kreisrunde Struktur der Installation hat eine symbolische Bedeutung und greift die Form des Ouroboros auf, die Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt. Das traditionelle Tambourin, das ich bemalt habe und ebenso Teil der Installation ist, greift dieselbe Form auf. Der Kreis ist deshalb von Bedeutung, da nicht nur beim traditionellen Pizzica-Tanz die Kreisform (Ronda) beibehalten wird, in der die Tänzer*innen sich bewegen, sondern auch bei der Ausführung des Rituals waren die tarantate einer Schar Menschen ausgesetzt, die sich kreisförmig um sie herum versammelten.
Die Schlange versetzt dich so wie die Tarantel in eine Art Trance.
Vier Textilbanner, auf denen Spinnen und Schlangen zu sehen sind, geben der Struktur Bewegung. Ich habe Textil gewählt, da es ebenso eine besondere Bedeutung in der Ausführung des Rituals hat: Die hysterischen Frauen wurden auf ein weißes Bettlaken gelegt, auf dem sie tanzten, schwitzten und herumrollten.
Bei der Auswahl der Motive auf den Textilbannern beschränkte ich mich hauptsächlich auf die Symbolik der Spinnen und Schlangen: beides Tiere, die im Tarantismus eine besondere Rolle einnehmen. Die Schlange versetzt dich so wie die Tarantel in eine Art Trance. Die Schlange ist ebenso ein Symbol für die Lebensenergie (Kundalini) und die Transformation, während die Spinne für die Mutter steht, die Individualität, die Kreativität und die Erweiterung des kollektiven Bewusstseins (das Spinnennetz).
Der Sound, den man beim Betreten der Arbeit hört, soll den heilenden Aspekt durch Tanz und Musik hervorheben. Die Idee war es, eine Arbeit zu kreieren, die möglichst interaktiv ist. Ich möchte die Besucher*innen teilhaben lassen und den Rahmen schaffen, ein Kunstwerk mit allen Sinnen zu erleben. Meine Arbeit ist so aufgebaut, dass Menschen sie betreten, um sie herumlaufen und sie wieder verlassen können. Dabei ist die Musik im Hintergrund und man kann selbst entscheiden, ob man sich tiefer mit dem Thema auseinandersetzen möchte oder nur kurz einen Blick hinein wagt.Weitere Artikel zum Thema
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