Afragola ist eine camorraverseuchte Gemeinde im Grossraum Neapel. Eine Betonwüste mit 65.000 Einwohnern, in der die Kassen der Supermärkte und Tankstellen durch Stahlgitter geschützt sind und illegales Bauen als Alltagserscheinung gilt. Zu bieten hat die Stadt nur eine Sehenswürdigkeit, die Architekten aus der ganzen Welt anzieht: den futuristischen Bahnhof von Zaha Hadid. 40.000 Quadratmeter auf fünf Ebenen mit gewölbten Wänden und sich überschneidenden Treppenaufgängen zu grossen, sonnendurchfluteten Hallen. Durch 5000 Quadratmeter Glasflächen fliesst das Licht ungehindert in den riesigen Bau, der einen wesentlichen Schönheitsfehler aufweist: Züge verkehren in dem spektakulären Gebäude nicht, das vom gewohnten Bild eines Bahnhofs radikal abweicht.
Und auch wenn er im Juni von Verkehrsminister Graziano Delrio feierlich eröffnet wird, werden dort bestenfalls einige Intercity-Züge halten. Der 2003 begonnene und nach langen Unterbrechungen nunmehr fertiggestellte Bau der mittlerweile verstorbenen Architektin ist eine klassische cattedrale nel deserto, wie sie in Süditalien häufig anzutreffen sind.
An der Hochgeschwindigkeitsstrecke Florenz-Bari war Afragola als neuer Bahnhof Neapels gedacht. Hier sollten die Passagiere auf U-Bahn, Regionalzüge oder Busse umsteigen, um ihr Ziel im Grossraum Neapel zu erreichen. Afragola sollte den stets überfüllten Kopfbahnhof Napoli Centrale entlasten und den Passagieren unnützen Zeitverlust ersparen.
Doch Zaha Hadids Mega-Bahnhof ist von der nächsten U-Bahn mindestens 15 Kilometer entfernt und auch nicht an die berüchtigte Circumvesuviana angeschlossen, die neben der Linie Roma-Ostia als schlechteste Nahverkehrsstrecke Italiens gilt. Und die Busse stecken meistens im chaotischen Verkehr. Der an Sorgen gewöhnte Bürgermeister von Afragola, Domenico Tuccillo, vergleicht den Millionenbau mit einer astronave abbandonata nei campi. Seine Forderungen nach Bau angemessener Parkplätze und Einführung von Shuttle-Bussen verhallten bisher ungehört.
Über 60 Millionen Euro hat die Verwirklichung des Grossprojekts bisher gekostet. Doch die Fertigstellung der Strecke Napoli-Bari, an die der Bahnhof angeschlossen werden soll, wird kaum vor 2023 erfolgen. Wer im Internet eine Fahrtkarte mit Start in Afragola kaufen will, erhält den Bescheid La stazione di partenza inserita é errata .
Das hat die Bahnverwaltung nicht daran gehindert, vor wenigen Tagen in den wichtigsten italienischen Tageszeitungen Inserate zu publizieren, die tausende Quadratmeter Geschäftsflächen zur Vermietung anbieten. Eine surreale Situation.
Auf die Einweihung des "schönsten Bahnhofs Italiens" will man trotz aller Widrigkeiten nicht verzichten. Doch bis die Hochgeschwindigkeitszüge in den futuristischen Bau rollen, müssen weitere 30 Millionen investiert werden. Bis dahin werden Sprayer und Vandalen sich wohl in Hadids leerem Glaspalast austoben können.