Politik | Rassismus

Say his name

Seit George Floyds Ermordung wird gegen Rassismus und Polizeigewalt demonstriert. Eine Analyse darüber, worin diese Phänomene wurzeln und warum Rassismus uns alle angeht.
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Foto: AG

George Floyd, ein unbewaffneter Afroamerikaner, der keinen Widerstand geleistet hatte, wurde am 25. Mai 2020 in Minneapolis von einem weißen Polizisten ermordet, weil dieser rund neun Minuten auf dessen Hals kniete.

Zu viele Male schon musste ein ähnlicher Satz mit blutiger Tinte zu Papier gebracht werden:

Eric Garner starb 2014 in Folge eines eigentlich vom NYPD verbotenen Würgegriffs, obwohl er am Boden liegend elf Mal flehte: „I can’t breathe.

Freddie Gray starb 2015 in Baltimore durch eine Nackenverletzung in Folge eines rough rides, weil es für die Beamten schlichtweg zu gefährlich gewesen sei, den gefesselten Gray beim Abtransport anzuschnallen.

Walter Scott wurde 2015 in North Charleston beim Weglaufen in einem Park von hinten fünf Mal niedergeschossen.

Die Ursachen

Dennoch wird es – zwar immer mühsamer, aber noch erfolgreich – stur vermieden, die Ursachen tödlicher Polizeigewalt in den USA anzugehen:

Über eine Ursache, die allerdings sämtlichen dieser Vorfälle zu Grunde liegt, wird nur sehr ungern diskutiert: der systemische und institutionelle Rassismus in den USA.

Die Wurzeln: Kolonialismus und Sklaverei

Worin wurzelt diese ausgeprägte Form von Rassismus allerdings? Bzw. wann und wo soll man anfangen, wenn man über die Wurzeln des Rassismus in den USA schreibt?

1492 auf den Antillen? Dort wo Columbus landete und keinen Monat später indigene Taínos entführte. Oder 1526 in Florida? Dort wo spanische Kolonialisten zum ersten Mal versklavte Menschen aus Afrika auf das heutige Staatsgebiet der USA brachten? 

Vielleicht doch im August 1619 in Jamestown, Virginia. Dort wo der Kolonialist John Rolfe – genau, die Figur aus dem von rassistischen Stereotypen nur so triefendem Disney-Film „Pocahontas“ – über die Ankunft eines englischen Kaperers in sein Tagebuch schrieb: „He brought not any thing but 20 and odd negroes.“ 

Dieses Jahr und diese Geschichte wurden zum Symbol für den Anfang der Sklaverei in den USA. Die Sklaverei wiederum ist wohl die tiefste Wurzel des in den USA heute grassierenden Rassismus, insbesondere gegenüber Afroamerikaner*innen.

Sie sollte Anlass für zahlreiche Entwicklungen sein, welche hier den Rahmen sprengen würden. Der Autor und Journalist Ta-Nehisi Coates fasst sie in seinem Plädoyer The Case for Reparations wie folgt zusammen: „Zweihundertfünfzig Jahre Sklaverei. Neunzig Jahre Jim Crow. Sechzig Jahre separate but equal. 35 Jahre rassistische Wohnungspolitik. Solange wir nicht mit unseren kumulierten moralischen Schulden abrechnen, werden die Vereinigten Staaten niemals ganz sein.“

Halten wir uns aber eines vor Augen: Der Kolonialismus prägte und prägt nicht nur die USA, sondern die gesamte Welt.

Rassismus und Kultur als Vehikel

Fangen wir mit einem Beispiel an, das die meisten kennen dürften: mit Karl May und seiner Kunst- und Kultfigur Winnetou.

May erzählt in seinen Werken – basierend auf dem oben erwähnten Geographiegenie Columbus – von den „Indianern“, obwohl es sich eigentlich um die indigenen (von spanischen Wort für „eingeboren“ indígena) Einwohner*innen Nordamerikas handelt. Diese „Indianer“ kategorisiert er in seinen Werken dann in „edle“, sprich „gute Indianer“, und „Barbaren“, sprich „böse Indianer“. 

Sein Winnetou ist natürlich ein „edler Indianer“, das heißt klischeehaft naturverbunden, mit hohen Wangenknochen, naturbelassenen, kräftigen Zöpfen und immer an der Seite von Old Shatterhand als Handlanger des weißen Helden. In den Verfilmungen gipfelt dieses Zerrbild in der stereotypischen Kleidung, welche bei Weitem nicht die traditionelle Kleidung der indigenen Einwohner Nordamerikas darstellt.

Auch inhaltlich machen die Werke bei einer ernsthaften Auseinandersetzung mit keiner Silbe Sinn: Warum bitte sollte Winnetou sich mit dem Eroberer Old Shatterhand nicht nur anfreunden, sondern ihm sogar aktiv dabei helfen, seine eigene Heimat zu zerstören? 

Mays Werke romantisieren den Kolonialismus mit all seinen Grausamkeiten, befeuern eine rassistische Weltanschauung und haben die Wahrnehmung der indigenen Einwohner*innen von Nordamerika ganzer Generationen geprägt. Nichtsdestotrotz sind sie Teil des weißen Kulturerbes geworden. Und das, obwohl May selbst nie in Nordamerika war!

Das ist aber nur ein Beispiel von vielen: Man denke etwa an die ungeklärten Fragen von Herkunft und Rückgabe kultureller Artefakte. Oder an die Darstellung anderer indigener Einwohner*innen und versklavter Menschen, die teilweise noch schlimmer sind.

Der psychologische Aspekt

Rassismus und Voreingenommenheit rassistischer Prägung werden allerdings nicht nur über Kultur transportiert, sondern sind auch selbstbewahrend (self perpetuating). 

Die Spezies Mensch funktioniert mitunter einfach aufgrund von vorgefertigten Bildern bzw. Stereotypen und betrachtet ihre Realität – mal unbewusst, mal bewusst – durch diese Linsen. Dies lässt zuweilen positive und negative Vorurteile – eben auch rassistischer Prägung – aufkeimen.

Diese Dynamik macht mit der Einführung des Begriffs der „Rasse“ am Ende des 17. Jh. den Weg frei für die Einteilung von Menschen aufgrund äußerer Merkmale in hohe und niedere Rassen, was im wahrsten Sinne des Wortes fatal werden sollte. 

Im „besten Fall“ wurde „die Wilden“ mit väterlicher Fürsorge christianisiert, wobei im Falle einer Auflehnung gegen die Bevormundung nicht vor Gräueltaten zurückgeschreckt wurde. 

So wurden etwa 1904 auf Anweisung des deutschen Generalleutnants Lothar von Trotha 80.000 Herero in die Omaheke-Wüste in Namibia getrieben und verdursteten qualvoll. Von den 80.000 überlebten nur 15.000 Herero, welche im Anschluss gefangen genommen wurden. 

Aus seinem Vorhaben machte von Trotha auch keinen Hehl: „Gewalt mit krassem Terrorismus und selbst mit Grausamkeit auszuüben, war und ist meine Politik. Ich vernichte die aufständischen Stämme in Strömen von Blut und Strömen von Geld. Nur auf dieser Aussaat kann etwas Neues entstehen.“ 

Auf dieser Dynamik basiert auch – den Bogen kurz zurückschlagend – Winnetou von Karl May: Der „böse Wilde“ muss unter der Bevormundung des Weißen bleiben, der „edle Wilde“ darf ihm dabei helfen. Der Konflikt zwischen Unterdrückten und Unterdrückern wird zum „Rassenkampf“ erhoben, bei dem es gilt, die Überlegenheit der Unterdrücker zu festigen.

Dieses Denken aufgrund ethnischer Herkunft besser und wertvoller zu sein und deshalb eine höhere Lebensberechtigung zu haben, ist die Wurzel von Rassismus. In den schlimmsten Fällen bezahlen Rassismus-betroffene Menschen dies mit ihrem Tod. Auch George Floyd, der sich in eine nicht enden wollenden Liste von ermordeten Schwarzen und PoC (People of Color) einreiht. 

Alltagsrassismus

Rassismus ist gleichzeitig ein Phänomen, das sich in viel subtileren Weisen manifestieren kann. Es handelt sich hierbei um die vielen Formen des Alltagsrassismus, der offen oder fast unmerklich ausgelebt wird. 

So wird/werden im Rahmen der vielen (un)ausgesprochenen Vorurteile Rassismus-betroffene/n Menschen weltweit:

  • seltener ein hoher Bildungsgrad zugeschrieben (negativer Rassismus), während südostasiatisch gelesene Menschen sehr oft als „hyperintelligente Streber*innen“ gelesen werden (positiver Rassismus);
  • seltener ein stabiles Einkommen zugetraut, zusammenhängend mit dem Vorurteil ihr Bildungsgrad sei geringer;
  • seltener Kompetenzen und/oder Führungsrollen zugetraut bzw. zugeschrieben;
  • von geltenden Schönheitsidealen fast gänzlich ausgeklammert (negativer Rassismus) oder in Pornographie hypersexualisiert (positiver Rassismus);
  • mehr Straftaten zugetraut, wodurch insbesondere PoC sehr häufig reflexartig verdächtigt werden; insbesondere an Grenzübergängen, wo sie öfters, länger und teilweise gesondert (z.B. Hongkong) kontrolliert werden; dieses sog. racial profiling wurde mancherorts erst vor Kurzem erstmals öffentlich und damit bewusstseinsstiftend als solches benannt.

Solche Vorurteile und diese Form von – oftmals nicht ganz so – subtilem Rassismus ist für die meisten Betroffenen ein alltägliches (!) Problem. Ein Problem, das vielfach nur von den betroffenen Menschen als solches wahrgenommen wird und nicht von anderen. Auch nicht von Menschen, die sich dezidiert als antirassistisch bezeichnen.

Es ist auch ein Problem, über welches zu sprechen aus verschiedensten Gründen, nur für die Wenigsten eine Option ist. Gerade deshalb geht Rassismus uns alle etwas an. Egal ob wir selbst betroffen sind oder nicht. Gerade in Italien, wo sich die Anzahl der rassistischen Hassverbrechen seit 2014 verdoppelt hat.

Erheben wir deshalb unsere Stimmen für jene, die es nicht können oder nicht mehr können.

Und sagen wir ihre Namen. 

Sagen wir seinen Namen: George Floyd.

PS: Dieser Text wurde bereits am 29. Mai erstmals veröffentlicht und wird heute zum Anlass der Black Lives Matter Demonstration in Bozen erneut online gestellt. Seit der Erstveröffentlichung wurden keine Veränderungen vorgenommen.