Kultur | Salto Weekend

Verkaufte Heimat

Zum 70. Geburtstag von Felix Mitterer ist im Haymon-Verlag „Mein Lebenslauf“ erschienen. Salto Weekend bringt zwei Textauszüge des bekannten Schriftstellers. Teil I.
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Foto: Haymon

Verkaufte Heimat – ein Stück Südtiroler Geschichte

Unter Mussolini wurde in Südtirol die deutsche Sprache verboten, tausende von italienischen Arbeitern wurden vom Süden in die neu gebaute Bozner Industriezone gebracht, die nicht bäuerlichen Südtiroler hatten kaum Arbeit und Wohnungen, wer Arbeit wollte, musste seinen Namen italianisieren lassen (aus Josef Rabensteiner wurde Giuseppe Pietracorvo), sogar Namen auf Grabsteinen wurden italianisiert. Da die Südtiroler Kinder in den italienischen Schulen (unterstützt von den Eltern) oft passiven Widerstand leisteten und nichts lernen wollten, die geheimen Deutschschulen aber immer wieder von den Faschisten ausgehoben wurden (die Lehrerinnen nach Süditalien deportiert), waren Sprache und Kultur in höchster Gefahr.

Verkaufte Heimat, Teil 1 / Quelle: Centro e Mediateca multilingue, Youtube

Wegen seines »Stahlpaktes« (Wirtschaftsabkommen) mit Musso­lini, verzichtete Hitler nach dem Einmarsch in Österreich (den Mussolini unwillig duldete) endgültig auf Südtirol und es wurde das »Optionsabkommen« geschlossen. Nach diesem Abkommen mussten sich die Südtiroler 1939 entscheiden, ob sie italienische Staatsbürger bleiben wollten und damit auf ihre Sprache und Kultur offiziell verzichteten, oder ob sie für die deutsche Staatsbürgerschaft und damit für die Auswanderung ins Deutsche Reich stimmten. Beide Länder starteten vor der Abstimmung eine Propaganda­schlacht ohnegleichen. Die Deutschen versprachen den Südtirolern geschlossene Siedlungsgebiete und machten sie glauben, sie würden nach Süditalien deportiert, wenn sie fürs Bleiben stimmten. Die italienischen Faschisten unterstützen diese Gerüchte, um die Süd­tiroler loszuwerden. Erst als nicht nur die Armen und Arbeitslosen, sondern auch die Bergbevölkerung immer mehr fürs Auswandern stimmte, bekamen sie es mit der Angst zu tun und dementierten die Gerüchte, aber da glaubte ihnen kaum mehr jemand, es war zu spät.

Aber wie hätte man selber entschieden, damals? Wäre man nicht ebenfalls in die Propagandafalle der Nazis und Faschisten gelaufen?

So waren diejenigen, die für ein Verbleiben in der Heimat ein­traten und überzeugt waren, auch innerhalb Italiens Tiroler bleiben zu können, auf verlorenem Posten. 86 Prozent der Südtiroler stimm­ten bis Ende 1939 für die deutsche Staatsbürgerschaft, also für die Auswanderung in ein Land, das sich bereits im Kriegszustand be­fand. Für die Kinder stimmten die Väter ab. Nazideutschland hielt seine Versprechen nicht, es gab dann nie ein geschlossenes Siedlungs­gebiet, allerdings zahlreiche »Südtiroler-Siedlungen« in Österreich, besonders in Tirol und Vorarlberg, was die einheimische Bevölke­rung verbitterte, da sie zunehmend unter Wohnungsnot litt. Die Südtiroler Männer wurden bei ihrer Ankunft in Innsbruck sofort in die deutsche Wehrmacht einberufen und in den Krieg geschickt. Nach dem Krieg gab es große Probleme für die »Rückwanderer«, da sie offiziell deutsche Staatsbürger waren und Italien sie nicht mehr wollte. Erst nach vielen diplomatischen Verhandlungen zwischen Österreich und Italien durften sie - wenn sie wollten - zurückkehren. Viele, besonders die Kinder, blieben in Österreich.
Ende 1985 kam von Dr. Franz von Walther (RAI Bozen) an den ORF die Anregung, einen Fernsehfilm über die Option zu drehen und 1989 zum 50-jährigen Gedenken zu senden. Dr. Peter Mertz vom ORF schlug mich als Drehbuchautor vor. Nun begann eine langwierige Arbeit, die sich über zwei Jahre erstreckte. Studium von Literatur und Dokumenten, Nachforschung in Archiven, zahl­reiche Interviews mit Zeitzeugen, auch weite Reisen. Bis in die Tschechoslowakei kam ich und sprach mit Leuten, die damals von ihren Höfen vertrieben wurden, um Platz für Südtiroler Bauern zu schaffen.
Schließlich hatte ich eine Unmenge an Informationen und eine Unmenge an Material. Jetzt musste daraus eine Geschichte ent­stehen, jetzt musste ich all die vielen Standpunkte und Positionen bestimmten Figuren zuordnen und mit ihnen und über sie das Leiden der damaligen Zeit so darstellen, dass die Fernsehzuschauer es nachempfinden und verstehen konnten. Da gab es die Italiener und die Südtiroler, die »Dableiber« und die »Geher«, die Armen und die Wohlhabenden, die Nazis und die Faschisten, den großen Krieg und dieses kleine Volk, das von der Politik unterdrückt und mani­puliert wurde, bis es nicht mehr wusste, wie ihm geschah.

Verkaufte Heimat, Teil 2 / Centro e Mediateca multilingue, Youtube

Eines war mir wichtig: Ich wollte versuchen, gerecht zu sein, ich wollte nicht wieder neue Gräben aufreißen. Ich versuchte auch die »Geher« zu verstehen, denn die »Dableiber« zu verstehen, ist für einen unbeteiligten Außenstehenden einfach nach 50 Jahren; sie hatten ja recht. Aber wie hätte man selber entschieden, damals? Wäre man nicht ebenfalls in die Propagandafalle der Nazis und Faschisten gelaufen? Damals, als ich die Drehbücher recherchierte und schrieb, gab es noch eine große, unsichtbare Kluft zwischen den Familien der einstigen »Geher« und der »Dableiber«. Zuviel hatte man sich gegenseitig zugefügt, damals. Besonders die Mehrheit der Geher der Minderheit der Dableiber. Man sprach nicht gern darü­ber, zu sehr schmerzten immer noch die Wunden. Aber man muss darüber reden, auch wenn es weh tut. Nur was ausgesprochen wird, kann überwunden, kann »verschmerzt« werden. Heute sind fast alle Zeitzeugen gestorben, viele der Kinder aber tragen den Schmerz immer noch weiter. Aber die Kluft ist geschlossen.
Im Frühjahr 1988 waren die beiden Drehbücher fertig und wurden von Karin Brandauer als Regisseurin von Herbst 1988 bis Frühjahr 1989 an Originalschauplätzen in Südtirol verfilmt: in Glums, im Ultental, in Meran und Bozen. Kameramann war der wunderbare Helmut Pirnat.
Die Handlung hatte ich auf drei Familien gelegt: die »Geher« Tschurtschenthaler, die »Dableiber« Oberhollenzer, die »Anpassler« Rabensteiner. Dazu kamen die Italiener: der faschistische Bürger­meister und Schuldirektor, der Gemeindesekretär, die Carabinieri sowie der Straßenarbeiter aus dem Trentino, der mit den Tirolern sympathisiert. Die Darsteller waren eine Mischung aus Tiroler Profis und Laien, die großartig und authentisch spielten: Anna Pircher, Christine Mayr, Rita Frasnelli, Linde Gögele-Spitaler, Barbara Weber, Peter Mitterrutzner, Ludwig Dornauer, Otto Donner Helmut Haidacher, Theo Runnatscha, Pepi Pittl, Johann Spiss und viele andere. Auch die italienischen Darsteller waren hervorra­gend, besonders Ivano Marescotti als Podestà (Bürgermeister) und Paolo Magagna als Carabiniere Ettore, der sich in eine Südtirolerin verliebt, womit beide zwischen die Fronten geraten.
Ich danke den Redakteuren der beteiligten Rundfunkanstalten, vor allem Dr. Peter Mertz (ORF) und Dr. Franz von Walther (RAI Bozen) sowie der von mir unglaublich geschätzten Regisseurin Karin Bran­dauer. Dank auch den Auskunft gebenden Südtirolerinnen und Südtirolern, besonders Hanna Goldmann, sowie Anna und Josef Engl und den gastfreundlichen Bürgern von Sumvald (Mähren). Von der vielen Literatur, die ich studiert habe, soll als erste und ganz wichtige Unterlage für meine Arbeit das Doppelheft der Zeitschrift »Föhn« über die Option genannt werden, erschienen 1980, mit zahlreichen Dokumenten und Beiträgen von Leopold Steurer, Claus Gatterer, Friedl Volgger, Gerhard Mumelter und anderen.
Der Zweiteiler hatte 1989 sehr viele Zuschauer in Österreich und Deutschland, in Südtirol - so kann man sagen - sahen über­haupt alle zu. Und es entstand eine gute Früchte tragende Diskus­sion zwischen »Dableibern« und »Gehern«, und die Eltern klärten endlich ihre Kinder über diese finstere, tragische Zeit auf. Karin Brandauer und ich erhielten zahlreiche Preise, so den »Telestar« der deutschen Fernsehanstalten, den »Bayerischen Filmpreis«, den Österreichischen Volksbildungspreis und nicht zuletzt den »Golde­nen Enzian« des Bergfilmfestivals in Trient.

Salto in Zusammenarbeit mit Haymon