Politik | Zweiter Teil eines Gesprächs mit dem Philosophen Étienne Balibar

Ist Europa noch zu retten? (2)

Dies ist der zweite Teil eines Gesprächs mit dem französischen Philosophen Étienne Balibar über die Widersprüche der gegenwärtigen Verfasstheit der EU, die verheerenden Auswirkungen, die diese haben können, über die EU-Wahlen, und was es bedeutet, jemand des Populismus zu bezichtigen.
Die erste Hälfte des Gesprächs findet ihr hier
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Die erste Hälfte des Gesprächs findet ihr hier.

Wie schätzen Sie die EU-Wahlen ein, die am 25.Mai abgehalten werden ? Das Europäische Parlament hat ja seit dem Vertrag von Lissabon etwas mehr Mitspracherecht.

In der Tat, das EU Parlament wird zum ersten Mal beim Präsidenten der EU-Kommission ein Veto haben und ich denke, dass das keine Nebensächlichkeit ist. So wie sich die Dinge heute darstellen, gibt es drei wahrscheinliche Szenarien: Einmal kann es natürlich sein, dass sich gar nichts ändert. In den letzen EU Wahlen gab es eine Tendenz sinkender Wahlbeteiligung, weil die WählerInnen eben nicht davon überzeugt waren, dass die Wahlen irgendwelche Auswirkungen haben können, und sie nicht glauben, das EU-Parlament irgendeine Macht hat. Nun, diese Ansicht werden sie nicht ablegen, nur weil ein paar institutionelle Modifikationen angekündigt worden sind, die noch nicht sichtbar geworden sind.

Was ist mit den Euro-Skeptikern und Populisten, vor denen immer lauter gewarnt wird?

Ich kann und will keine Prognose abgeben. Es kann gut sein, dass es ein Erstarken der Anti-EU und Proteststimmen geben wird, etwa die UK Independence Party in Großbritannien oder den Front National in Frankreich, also eher auf der politisch Rechten als auf der Linken. Das wäre ein alarmierendes Szenario, das aber als Weckruf wirken könnte. Andrerseits gibt es natürlich auch die Möglichkeit, dass eine Kombination aus wachsendem Interesse an dem Funktionieren des Europäischen Parlaments und einer bewussteren Opposition gegen die Politik der EU zu einem Erstarken von Alternativen auf der Linken über die Nationalgrenzen hinweg führt.

Wie schätzen Sie den anti-europäischen Populismus ein ? Für das politische Establishment ist er eine Irritation, eine Herausforderung, die einerseits als irationell abgetan wird, aber andrerseits den Finger in die Wunde der EU legt?

Ich denke, dass wir damit beginnen sollten, den sehr konfusen Begriff des „Populismus“ in Frage zu stellen. Ich habe ihn selbst gebraucht, als ich während der Krise in Griechenland im Jahr 2010 feststellte: „Die Griechen haben Recht, sich gegen die Troika aufzulehnen ... was wir bräuchten, ist ein europäischer Populismus“. Ich meinte damit eine nicht-nationalistische Protestbewegung gegen die Politik der Troika. Dann hab ich bald gemekrt, dass das eine unglückliche Formulierung war, und Populismus zu Gegen-Populismus korrigiert. Viele Politiker und Politologen verwenden den Begriff im Wesentlichen dazu, eine Politik zu disqualifizieren, die die Massen mobilisiert und die Interessen der Armen vertritt, und um den Eindruck zu erzeugen, dass die „extreme Rechte“ und die „extreme Linke“ auswechselbar sind. Was grundfalsch ist. Aber natürlich kann die zunehmende Verzweiflung eines großen Teils der Bevölkerung zu einem Erstarken der extremen Rechten und des Nationalismus zu führen, wenn die Demokraten ihr nicht Ausdruck verleihen. Wenn uns die Geschichte eines lehrt, dann dies.

Ist der Populismus nicht in mancher Hinsicht ein Nebenprodukt der Entwicklung der EU und ihrer Krise?

Schwierige Frage. In der Mehrzahl der Länder Europas, wo sich derzeit starke nationalistische oder regionalistische Parteien entwickeln, haben sie ihre Rhetorik, ihre historischen Bezüge und ihr politisches Auftreten erneuert, um sich von dem Erbe des Faschismus loszusagen. Das gilt für den Front National in Frankreich, schon weniger für die Jobbik-Partei in Ungarn, und überhaupt nicht für die Goldene Morgenröte in Griechenland. Es gibt also Unterschiede, die von dem jeweiligen nationalen Kontext abhängen. Aber im Allgemeinen glaube ich, dass zwei teils widersprüchliche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit sich derartige „Populismen“ entwickeln können: Einerseits eine konservative, anti-sozialistische Tradition, andrerseits ein Nationalismus, der von dem Gefühl verschärft wird, dass Europa nur mehr ein Werkzeug der Globalisierung ist. Die Populisten der Rechten versuchen nicht, Europa zu regieren, aber der politische Druck, den sie ausüben, wird immer mehr zu spüren sein, was sehr ernste Folgen vor allem für Themen wie Einwanderung, die Roma, die religiösen oder sexuellen Minderheiten hätte.

Kann es nicht genauso sein, dass bei den EU-Wahlen die Populisten leicht zulegen, nur damit am Ende Sozialdemokraten und Christdemokraten auch im EU-Parlament eine Art von großer Koalition bilden?

Es gibt die Möglichkeit eines Erfolgs des zentristischen Blocks, einer „großen Koalition“, wie es sie in Deutschland gibt, und wie sie sich in Frankreich derzeit auf merkwürdige Weise herausbildet. Es kann gut sein, dass also die Sozialdemokraten und Christdemokraten zusammen die derzeitige Austeritätspolitik verteidigen und fortführen. Dies entstünde im Grunde aus einem Teufelskreis, der damit beginnt, dass die Mitte-links und Mitte-rechts Parteien, so sie an der Macht sind, im Wesentlichen die gleichen Politik machen, und damit endet, dass sie nur mehr einander haben, um eben diese Politik fortzuführen. Das ist nicht zuletzt deswegen gefährlich, weil es den Eindruck verstärkt, dass es ein „System“ gibt, dessen bloße Werkzeuge sie sind.

Glauben Sie, dass sich die Wahlen im Mai von vergangenen EU-Wahlen unterscheiden werden, nachdem es jetzt europäische Parteilisten und Spitzenkandidaten gibt? Oder sind sie eine Scharade, die den technokratischen und anti-demokratischen Charakter der EU bloß verdeckt, indem den Wählerinnen und Wählern vorgegaukelt wird, sie könnten etwas mitentscheiden ?

Ich finde, dass dies zu verschwörungstheoretisch klingt. Wahlen sind niemals ein einfaches Mittel der Manipulation, da sie doch der Bevölkerung die Möglichkeit geben, sich auszudrücken. Allerdings hängt die Wirksamkeit, die sie haben können, von mehreren Faktoren ab: von dem Machtumfang der Legislative, der überall in Europa beschränkt ist; vom Umstand, ob zentrale Probleme von den Parteien thematisiert werden oder nicht (und davon und von einem tatsächlich europäischen Wahlkampf sind wir noch weit entfernt); und schließlich von der Wahlbeteiligung und dem Ergebnis: Selbst wenn eine Partei die Wahlen gewinnt, wird sie doch Kompromisse eingehen müssen. Aber meine politische Sozialisation lehrt mich, dass Wahlen etwas bewirken können, wenn gewisse politische Bedingungen gegeben sind.

In der Linken gab und gibt es teilweise heftige Diskussionen über die Bewertung der Europäischen Union; eine Position betonte die Natur der EU als neoliberal, militaristisch und undemokratisch, während eine andere versuchte, eine zu rettende Idee Europas von der real existierenden EU abzuheben.

Nun, meine Position wäre die: Ich würde nicht abstreiten, dass die EU eine kapitalistische und imperialistische Konstruktion ist. Nur: Wo ist denn, in unserer Welt heute, eine Regierung, eine staatliche Institution, die keine kapitalistische und imperialistische Konstruktion wäre? Von welchem Standpunkt wird denn diese Kritik formuliert? Heißt das, dass der Nationalstaat in seiner derzeitigen Form weniger imperialistisch oder weniger ein Werkzeug der kapitalistischen Globalisierung als die EU wäre? Oder ist es von einer Warte aus gesprochen, die eine utopische, ganz andere Regierung herbeisehnt? Wenn ersteres der Fall ist, dann weise ich das vollkommen zurück. Ich sehe keinen Grund, warum wir die Nationalstaaten heute Europa vorziehen sollten, und ich sehe nicht, wie sie weniger vom globalen Finanzkapitalismus abhängig sein könnten, als die EU, vielleicht sogar eher mehr. Wenn zweiteres der Fall ist: Ja, ich verteidige die Idee, dass wir für radikale Veränderung eintreten müssen. Meine Position ist, dass wir auf allen Ebenen für diese Alternativen, diese revolutionäre Veränderung arbeiten müssen. Wenn wir die Idee aufgeben, dass die Alternativen nicht nur auf nationaler sondern auch auf der transnationalen Ebene Europas realisiert werden sollen, dann begeben wir uns von Anfang an - angesichts der derzeitigen Herausforderungen ­- in eine Position absoluter Schwäche.

Eine der Forderungen der Linken wäre die nach einem sozialen Europa, oder einem europäischen Sozialstaat. Davon sind wir derzeit weit entfernt.

Allerdings. Die Idee des europäischen Sozialstaats, oder des „sozialen Europas“ ist seit vielen Jahren Teil der ideologischen Agenda der europäischen Integration, und hat dadurch an Glaubwürdigkeit eingebüßt, dass sich Europa davon entfernt hat, anstatt sie zu verwirklichen. Die Weichen hierfür wurden in den 1970ern und 1980ern gestellt, und am Ende ist von den zwei Säulen der Union (gemeinsame Währung und soziales Europa) nur die gemeinsame Währung übrig geblieben - die uns jetzt alle möglichen Probleme bereitet- , während das „soziale Europa“ im Stadium der Absichtserklärung verblieb. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass ein Europa ohne eine soziale Dimension der Wohlfahrt auf europäischem Niveau kollabieren wird.

Die Linke tut sich damit schwer, eine EU-kritische und zugleich pro-europäische Position als überzeugende Alternative unter die Leute zu bringen.

Ich habe die Schwäche der Linken auf europäischer Ebene oft beklagt.... Aber Spinoza sagt: „Weine nicht, lache nicht, sondern versuche zu verstehen.“ Nun gut, eines der Symptome der gegenwärtigen politischen Krise, die auch eine moralische Krise ist, ist die Unfähigkeit der existierenden politischen Kräfte, sich auf europäischer Ebene zu organisieren, und zwar sogar dann, wenn ihre Interesse überlappen. Die Einzigen, die es wirklich versucht haben, eine transnationale politische Bewegung aufzubauen, waren die Grünen, und sie sind damit letztendlich gescheitert. Mir schwebt eine „Alternative Partei für Europa“ vor... Partei natürlich im breiten, Marxschen Sinne, keine Organisation, sondern eine Orientierung, die nicht sehr mächtig sein muss, aber zumindest existieren sollte.

Das heißt, Europa ist für Sie noch zu retten?

Es ist wichtig für die Linke in Europa, nicht nur dem anti-europäischen Ressentiment zu widerstehen, sondern darüber hinaus konstruktiv zu sein, alternative Visionen und Vorschläge hervorzubringen, so kohärent und konsistent das eben möglich ist. Das ist auch einer der Gründe, weswegen ich mich freue, dass der Sprecher von Syriza, Alexis Tsipras, bei den EU Wahlen zumindest symbolisch als Spitzenkandidat der Europäischen Linken für die Präsidentschaft der Europäischen Kommission kandidiert: Radikal kritisch dem gegenüber, was die EU als Maschine der neoliberalen Strukturanpassung anrichtet, aber zugleich mit der Forderung nach politischen und institutionellen Veränderungen der europäischen Konstruktion, und nicht ihrer bloßen Auflösung oder Zerschlagung.

Sie haben vor kurzem in einem Artikel beleuchtet, wie in Europa ein deutscher Hegemon an die Stelle des traditionellen franko-deutschen Gespanns getreten ist, und haben prognostiziert „Il y aura une question allemande longtemps en Europe“...

Ja. Sobald ich das geschrieben hatte, dachte ich, ich hätte hinzufügen sollen, und es wird eine französische Frage geben, eine italienische Frage, eine polnische Frage usw. Aber klar, von außen betrachtet, aus dem Süden Europas oder von Frankreichs Warte aus, ist die Hegemonie Deutschlands unverkennbar. Nicht nur, weil wir sehen, wie die französische Regierung mit allen Tricks versucht, entweder die Vormacht Deutschlands auszugleichen, oder wieder in das Führungstandem kooptiert zu werden. Etwa als Hollande versuchte, so was wie ein Gegengewicht in Europa aufzubauen, eine „Latino-Allianz“ mit Italien und Spanien, um zumindest für einen Moment der Sparpolitik zu wiederstehen, was bald gescheitert ist. Dann hat Frankreich versucht, seine militärischen Kapazitäten dafür zu nutzen, um eine Art europäische Arbeitsteilung zu erwirken, wo der wirtschaftlichen Macht Deutschlands die militärische Macht Frankreichs beiseite steht, was auch an den Interventionen in Afrika abzulesen ist. Endlich die sozialdemokratische Wende Hollandes in Frankreich, was in mancher Hinsicht ein Nachäffen der Allianz der Kräfte in einer großen Koalition ist, und im Grunde nur ein weiterer Effekt der deutschen Hegemonie. Die Hegemonie ist also sehr sichtbar.

Gewiss, nur wie sollen wir damit umgehen?

Ich befürchte, dass dies zu sehr simplistischen anti-deutschen Ressentiments in Europa führen wird, die selbst wiederum rein nationalistisch sind, etwa was ich vor einiger Zeit sowohl in Griechenland als auch in Italien gehört habe, „Frau Merkel gelingt jetzt, woran Hitler gescheitert ist: Ein deutsches Europa zu schaffen“. Sogar Habermas verwendet den Ausdruck des „deutschen Europa“, und Ulrich Beck hat sein jüngstes Buch so genannt. Das ist ein sehr gefährlicher Spiegeleffekt. Deshalb finde ich es auch so wichtig, dass es eine innerdeutsche kritische Reflexion über die Machtkonstellation in Europa gibt, und darüber, wie sie korrigiert werden kann, und dass diese Reflexionen auch zu einem europäischen Austausch führt. Nun, auch Habermas sprach kürzlich von Deutschlands semi-hegemonialer Position.

In der Tat, Habermas hat der SPD-Spitze im Februar die Leviten gelesen und einen Politikwechsel gefordert.

Ja, seine Rede ist in gekürzter Form in „Le Monde“  erschienen.

Auch in La Repubblica in Italien. Nur in Deutschland ist sie fast unbemerkt geblieben.

Das erklärt einiges für mich. Nun, ich bewundere Habermas für seinen Mut, und dafür, dass er die Dinge so klar beim Namen nennt. Ich bin nicht im Stande jeden Tag eine deutsche Zeitung zu kaufen, und beschränke mich darauf, regelmäßig ZEIT ONLINE zu lesen. Nun, ich bin nicht enttäuscht, aber es ist sehr auffallend, dass, mit ein paar Ausnahmen hin und wieder, die Artikel völlig unkritisch in Bezug auf dieses Thema sind. Habermas hingegen, der doch in gewisser Hinsicht eine Leitfigur der deutschen Linken sein sollte, ist sehr explizit, genauso Helmut Schmidt. Beide verwenden die sehr provokante Formulierung, „Werden wir in unserem Leben noch ein zweites Mal miterleben müssen, wie Deutschland daran arbeitet, die Staaten und Gesellschaften Europas zu verwüsten?“ Das ist doch viel stärker, als zu sagen, Deutschlands Position in Europa sei hegemonial.