Gesellschaft | Sicherheitswahn

Überwachung - Allheillösung oder Utopie?

Immer stärker wird die Forderung nach Videoüberwachung. Nicht beachtet wird dabei, dass unsere liberalen Freiheiten mit Füßen getreten werden. Ein Appell an die Vernunft.
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Am 8. Oktober erklärte Landeshauptmann Arno Kompatscher, dass es in Südtirol ein Sicherheitsproblem gebe. Um dieses vermeintliche Problem zu lösen schließt er auch das Einsetzen von Überwachungskameras nicht aus. An Geld dafür dürfte es jedenfalls nicht mangeln, wird er zitiert. Auch Bozens erster Bürger Luigi Spagnolli, der bisher als strikter Gegner von Videoüberwachung galt, will nun den Einsatz dieser Technologie nicht mehr ausschließen.

Auf den ersten Blick mag dieser Schritt logisch erscheinen. Immerhin geht es um unsre Sicherheit, um unsere körperliche Unversehrtheit. Aber stimmt das tatsächlich? Ist Südtirol wirklich ein so heißes Pflaster, gar ein Umschlageplatz für Schlägergruppen, dass es solche drastische Maßnahmen wie Überwachungskameras benötigt?

Der Trend geht eindeutig in eine Richtung, nämlich Straßen und Plätze sollen Videoüberwacht werden. Dies ist nicht nur in Südtirol so, sondern in weiten Teilen der Erde. Und dieser Trend ist auch kaum aufzuhalten. Nach jedem Anschlag, oder in unsrer Größenordnung nach jedem Gewaltakt, wird danach gerufen. Denn gemeinhin wird argumentiert, dass Videoüberwachung zum einen für mehr Sicherheit sorgt und zum anderen die Aufklärungsrate steigt. Überwachungskameras wird außerdem nachgesagt abschreckend zu wirken. Diese Technik ist auch kostengünstig: man spart Personal und Kosten für Prävention. So jedenfalls viele Befürworter.

Ganz diesem Prinzip folgend hat sich zum Beispiel Großbritannien dahingehend aufgerüstet. Wie viele Kameras dort exakt die Städte überwachen ist unbekannt, jedoch liegt die Zahl laut unterschiedlichen Studien wahrscheinlich zwischen 1,85 Millionen und 4,2 Millionen. Im Schnitt jedoch wird ein Bürger in Großbritannien rund 300 Mal am Tag gefilmt. Zwischen 2008 und 2012 ließ sich Großbritannien diesen Spaß umgerechnet über 655 Millionen Euro kosten.

Die Entfernung zum Glasbürger ist dort nicht mehr weit. Nun, Städte wie Bozen oder Meran sind weit davon entfernt so zu werden wie beispielsweise London, der Stadt der nachgesagt wird, die bestüberwachteste der Welt zu sein (allein das dortige U-Bahnnetz soll laut einem Guardian-Artikel vom 2. März 2011 von rund 11.000 Überwachungskameras gesichert werden). Jedoch zeigt dieses Beispiel die Dynamik und die Ausmaße auf, die der Sicherheitswahn haben kann.

Inwieweit diese Überwachungstechnik überhaupt für mehr Sicherheit sorgt ist nicht klar. Es gibt kaum Studien dazu. Eine davon aus dem Jahr 2011 beschäftigte sich aber mit den Kameras in London. Fazit: die Verbrechensrate bleibt konstant, die Aufklärungsrate ist mehr als bescheiden. Laut der Interessensgruppe „Big Brother Watch“ würde nur ein aufgeklärter Fall auf 1.000 Kameras kommen. Dabei nehmen sie auf die Londoner Polizeibehörde Bezug, die diese Zahlen veröffentlicht hatte. Zur selben Schlussfolgerung kommt auch eine weitere Studie, die sich mit den Überwachungskameras der Berliner U-Bahn beschäftigte. Von mehreren tausend Straftaten waren laut dieser Studie, durchgeführt durch das „Büro für angewandte Statistik D:4“ im Jahr 2006, zum einen nur von 78 Fällen Bildmaterial vorhanden und zum anderen war die Bildqualität nur bei einem Drittel davon ausreichend, um Verdächtige darauf zu identifizieren und dingfest zu machen.

Ganz klar zu sagen ist jedoch, dass Überwachungskameras keine Straftaten verhindern. Das beste Beispiel dafür ist wiederum London. Die Videoüberwachung hat beispielsweise weder die Bombenanschläge im Juli 2005 verhindert, noch die gewalttätigen Unruhen, ausgehend vom Stadtviertel Tottenham, im August 2011.

Die Tendenz geht somit klar dahin, den öffentlichen Raum zu einem sogenannten „Panoptikum“ zu machen. Dieser Begriff stammt vom britischen Philosophen Jeremy Bentham und beschreibt das Konzept eines Gefängnisses, dass die gleichzeitige Überwachung von vielen Menschen von nur einer Person ermöglicht Diesem Prinzip folgend funktioniert die Videoüberwachung.

Wie sieht die Situation nun aber in Südtirol aus? Da diese Thematik besonders für Bozen relevant ist, beziehen sich die hier angeführten Zahlen auf die Landeshauptstadt.

In Bozen gibt es bereits Videoüberwachung. Viele Private haben sich eine solche Kamera angeeignet. Auch werden beispielsweise die Plätze vor Banken vom jeweiligen Geldinstitut überwacht. Seit dem Sommer wird außerdem der Verkehr in der Innenstadt von Überwachungskameras kontrolliert. Als nächsten, logischen Schritt sehen nun viele die Installierung von Kameras auf sogenannten neuralgischen Plätzen, an Orten also, die als besonders problematisch gelten, beispielsweise der Obstplatz oder der Bahnhofspark. Sogar die Polizei spricht sich dafür aus. Interessant sind hier aber die Zahlen betreffend der Kriminalität in Bozen.

Beginnend bei Raubüberfällen, wurden 2012 noch 85 solche Überfälle bei der Polizei gemeldet, während im Jahr 2013 die Zahl auf 73 sank. Ähnlich sieht es bei Diebstählen aus: von 4.279 angezeigten Diebstählen im Jahr 2012 sank diese Zahl 2013 auf 4.099. Zugenommen haben hingegen die Verhaftungen von Straftätern: 2012 waren es 171 und im Folgejahr 183. Auch die Anzeigen haben insgesamt zugenommen, von 1.103 auf 1.192. Hinzu kommt, dass Bozen von der Wirtschaftszeitung „Il Sole 24 Ore“ in ihrer jährlichen Statistik zur Lebensqualität stets unter den ersten Plätzen wiederzufinden ist. In unserem Fall, der Einhaltung der öffentlichen Ordnung, lag Bozen zuletzt (Bezugsjahr 2013) auf dem fünften Platz. 2012 jedoch lag Bozen noch auf dem vierten Platz. Zum Vergleich: unsere Nachbarn aus Trient lagen in diesem Teilbereich 2013 auf dem 14. Platz. Bozen gehört also zu den sichersten Städten Italiens. Auch im Vergleich mit Innsbruck schneidet Bozen gut ab. 2013 wurden in der Tiroler Landeshauptstadt 5.277 Diebstähle zur Anzeige gebracht. Raubüberfälle wurden in Innsbruck hingegen nur 50 gemeldet. Auch diese Zahlen lassen sich sehen, zumal in Innsbruck auch mehrere Überwachungskameras zum Einsatz kommen, und das nicht nur von Privaten.

Die Zahlen belegen also, dass das subjektive Sicherheitsempfinden stark von der Realität divergiert. Dabei sind sich viele Leute nicht im Klaren, welche negative Folgen die Überwachung des öffentlichen Raumes haben könnte. Kameras an sich verändern nichts an der Ursache, sie können nur die Symptome davon beobachten. Die permanente Videoüberwachung von einem unbekannten Individuum führt auch zu einem Verlust der Freiheit, vom Staat in Ruhe gelassen zu werden, einer der Grundpfeiler unserer westlichen Demokratie. Wenn überall Kameras stehen führt dies zwangsläufig zu einem Hang zum Konformismus, wer überwacht wird kann sich nicht frei entfalten. Aus Angst etwas Falsches machen zu können, wird nichts ausprobiert, nichts gewagt. Die Gesellschaft bleibt starr, kann sich nicht weiterentwickeln. Dies wäre die Todesstunde unserer liberalen Gesellschaftsform. Auch kann niemand garantieren, dass diese Aufnahmen gesichert bleiben und nicht veröffentlicht werden. Ein Blick auf Videoportale wie „Youtube“ genügt um zu sehen, wie mit solch sensiblen Daten umgegangen wird. Dort gibt es nicht nur nette Videos, wie Leute älteren Mitbürgern über die Straße helfen, sondern auch Videos die Schlägereien dokumentieren. Aufgrund solcher brutalen Videos darf auch in Frage gestellt werden, ob Überwachungskameras das Sicherheitsgefühl überhaupt erhöhen.

Zu glauben, dass Videoüberwachung Straftaten verhindert ist eine Illusion. Wer wirklich glaubt, dass beispielsweise alkoholisierte Menschen, denen, aus welchem Grund auch immer, die Sicherungen durchbrennen, darauf Acht gibt, ob gerade irgendwo eine Überwachungskamera steht, der täuscht sich. Man kann in einer solchen Situation nicht davon ausgehen, dass sich die jeweilige Person so verhält wie man es gerne hätte. In so einem Fall macht eine Kamera keinen Sinn. Und das ist das Problem. Denn genau von solchen Leuten geht gemeinhin die größte Gefahr aus, vor Gewaltausbrüchen fürchten sich wahrscheinlich die meisten Leute. Nur vor terroristischen Anschlägen wird die Angst noch größer sein. Aber seien wir mal ehrlich, die Wahrscheinlichkeit, dass Südtirol von Selbstmordattentätern heimgesucht wird ist so hoch wie eine italienische-Hymne-singende Eva Klotz. Und wie wir gesehen haben ist die Aufklärungsrate trotz Kameras sehr niedrig. Außerdem ist es nicht von der Hand zu weisen, dass sich die Kleinkriminalität an andere Orte in periphere Stadtgebiete verlagert, da die Innenstadt zu „heiß“ ist. Hinzu kommt, dass nach einer gewissen Zeit Kriminelle den Respekt vor Kameras verlieren bzw. sich darauf einstellen und sich dahingehend vorbereiten oder die Überwachung sogar ein Ansporn ist, sich bei einer Straftat filmen zu lassen, wie beispielsweise der deutsche Soziologe Nils Zurawski herausgefunden hat.

Um die Kriminalität in den Griff zu bekommen muss präventiv eingegriffen werden. Aufklärung in Schulen ist nur eine Möglichkeit, um dieses Ziel zu erreichen. Eine andere wäre die Einrichtung von Beratungsstellen. Auch die Einführung von Resozialisierungsprogrammen für straffällig gewordene Menschen wäre ein Schritt in die richtige Richtung, damit sie nicht für immer gebrandmarkt bleiben. Hinzu kommt dabei die Alkoholprävention, die in Südtirol bereits Erfolge verzeichnen kann. Auch vermeintlich einfache Maßnahmen, wie eine bessere Straßenbeleuchtung, könnten zu mehr Sicherheit beitragen. Auch muss die Zivilcourage gestärkt werden. Viele brutale Übergriffe wären zu verhindern gewesen, wenn ein beherzter Mensch eingegriffen hätte. Nach einem solchen Vorfall nach mehr Polizei oder gar nach (mehr) Kameras zu schreien zeigt nur, dass wir vor der Gewalt kapituliert haben.