Kultur | Salto Afternoon

Schreiben als intime Zwiesprache

Die Nobelpreisträgerin für Literatur Louise Glück widmet ihre Dankesrede jener Literatur, die mit dem Einzelnen ins Gespräch tritt. Heute wird ihr der Preis verliehen.
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Foto: Alex Blajan, (c) unsplash

Wie ein intimes Gespräch beginnen? Ein Ringen um Worte, Gesten, etwas, das den Anfang machen könnte. Es fällt schwer. In diesen Tagen der physischen Isolation noch viel schwerer. Die Maske, hinter der Mund und Nase gewissenhaft feststecken, verbirgt den Gefühlsausdruck gekonnt, und obwohl der unlängst gefallene Schnee laute Stimmen verschluckt, gelingt es nicht, intimste Gedanken über den Mindestabstand hinüberzurufen. Am Telefon versagt die Verbindung just dann, wenn zum Sprechen angesetzt wird, und bei Skype verzögert der ausgesprochene Gedanke seine Ankunft um einige Sekunden; lang genug, um sich wegen der ausbleibenden Reaktion schon den Kopf zu zerbrechen. Die physische wird zur sozialen Isolation, Intimität zum Gast, der wie die anderen Gäste nicht kommen darf.

Die diesjährige Literatur Nobelpreisträgerin Louise Glück, die heute um 16:30 Uhr während der offiziellen Zeremonie der Nobelpreisverleihung gewürdigt werden soll (die Urkunde aber schon am Sonntag in ihrer Heimatstadt New York in Empfang genommen hat) widmet ihre Dankesrede eben jener Intimität. Eine Intimität, die vielen abhandengekommen ist, in der Literatur aber einen stetigen Raum zum Ausdruck findet. Die 77-jährige betrachtet den ihr überreichten Preis als Wertschätzung der intimen, privaten Stimme in der Literatur, die sich auch (aber nicht nur) in ihrer eigenen Dichtung wiederfindet. Eine Literatur, die zum einsam Einzelnen spricht, mit ihm auf intimste Weise ins Gespräch tritt:

Die Gedichte, zu denen ich mich Zeit meines Lebens hingezogen fühlte, sind Gedichte jener Art, wie ich sie beschrieben habe, Gedichte, die eine geheime Auswahl oder Verabredung enthalten, Gedichte, für die der Zuhörer oder Leser eine essenzielle Rolle spielt, als jener dem Vertrauen geschenkt wird, oder ein Aufschrei; manchmal wird der Leser zum Eingeschworenen: “I am nobody”, schreibt Dickens. “Are you nobody too? / Then there’s a pair of us – don’t tell…”


Glück spricht in ihrer Rede nicht explizit über ihr eigenes Werk, sondern ist Fürsprecherin für jene Autoren, die sich an ihre Leser wenden. Deren Werke nicht für sich selbst, sondern nur zum Leser sprechen, Werke, die die Massen zwar erreichen, aber in Zwiesprache mit dem Einzelnen berühren:

Die Dichter, zu denen ich immer wieder zurückkehrte, waren jene Dichter, in deren Werk ich als ausgewählte Zuhörerin eine essenzielle Rolle spielte. Intim, verführerisch, verstohlen und heimlich. Keine Stadium-Poeten. Und keine, die zu sich selbst sprachen.

Die Prekarität intimer Sprache stärkt ihre Kraft und die des Lesers, durch dessen Zutun die Stimme in ihrer Dringlichkeit und ihrem Vertrauen gestärkt wird… Jene von uns, die Bücher schreiben, wünschen sich viele zu erreichen. Aber einige Dichter begreifen die Vielen nicht in ihrer Räumlichkeit wie der eines vollen Auditoriums. Sie begreifen das Erreichen der Vielen als zeitlich gestaffelt, nach und nach, viele mit der Zeit, in Zukunft; aber in einer tiefsinnigen Weise kommen diese Leser immer einzeln, einer nach dem anderen.

Ihre Rede verfasst Glück schriftlich. Gekonnt verschmelzen Einsamkeit und Literatur in Zwiesprache und Intimität. Eine Intimität, die auch in Zeiten physischer Isolation genossen werden darf.