Wie der Koch zum Märchen kam

„Lei“: Obwohl es nur drei Buchstaben sind, hört man aus dem Wort ein Gemisch aus Niedersächsisch und Südtirolerisch. Christopher Robin Goepfert verbindet dieses „lei“ mit tun. Das hat etwas Schelmisches an sich. Er will „Kein Problem!“ oder „Der Versuch ist es wert!“ ausdrücken. Etwas Jungenhaftes und Neugieriges liegt darin, auch etwas Widerspenstiges. Die langen Beine übereinandergeschlagen, den Arm über die Couchlehne gelegt, sitzt Christopher mit aufmerksamen Augen da, auf dem Kopf eine weinrote Kochmütze. Sein Lächeln wird immer breiter, sein Gesicht wirkt immer jünger je länger er von seinen Märchen und marokkanischen Berber-Tajinetöpfen erzählt. Kaum zu glauben, dass der Mann schon fast 35 Jahre alt, dreifacher Familienvater, Hausmann, ehemals hauptberuflicher Koch und seit kurzem Märchenerzähler ist.
Es war einmal ein Junge, der wurde 1981 in Niedersachsen geboren, er hatte eine ältere Schwester und einen jüngeren Bruder. Der Junge wuchs auf einem Bauernhof mit Enten, Gänsen und Pferden auf. Als es an der Zeit war einen Beruf zu erlernen, praktizierte er in einer Restaurantküche in Mehle, seinem Heimatdorf. Die Stelle war frei: So lernte er den Kochberuf, ohne großes Überlegen oder Beraten. Dort begegnete er Dorothee, einer jungen Frau, die ihr Küchenpraktikum im selben Lehrbetrieb machte. Sie war noch ein Kind, als die Eltern mit ihr nach Südtirol zogen, die Großeltern aber wohnten in Mehle. Die beiden verliebten sich, schickten sich lange handgeschriebene Briefe. Als der volljährige Christopher seine Lehre abgeschlossen hatte, trampte er der jungen Frau nach Südtirol nach. Davor war er nie weiter als Niedersachsen gekommen.
Der Wirt seiner Hauskneipe war derart beeindruckt vom Willen des jungen Mannes, dass er ihn mit etwas Reisegeld ausstattete und ihm das Taxi bis zur nächsten Autobahnauffahrt zahlte. Christopher jobbte einen Winter lang in Südtirol, wollte Dorothee nahe sein. Dann kehrte er nach Deutschland zurück, neun Monate Zivildienst standen an. Er betreute Kinder, auch solche mit Beeinträchtigung, pflegte alte Leute und hängte noch zwei Jahre dran. Die Liebe zu Dorothee blieb beständig.
Sie kam im Winter 2001/02 zu ihm nach Niedersachsen, die beiden zogen zusammen. In Südtirol ist sie gelernte Hotelfachfrau, die in der Küche und im Service arbeiten kann. Doch in Deutschland fand sie keinen passenden Job. 2003 brachte sie Sohn Valentin zur Welt. Das mit der Arbeit blieb schwierig, daher entschied die junge Familie, nach Südtirol zu ziehen, lebte fünf Jahre in Terenten, wo auch die Schwiegereltern waren. 2008 kam Tochter Maya zur Welt, 2011 folgte Sohn Caro Ephraim. Dorothee blieb bei den Kindern, Christopher kochte in einem Restaurant. Dann bekamen sie in einem hochklassigen Hotelrestaurant im Eisacktal ein Arbeitsangebot: er als Patissier, seine Partnerin als Saalbedienung. Sie zogen nach Klausen, Christophers Mutter, aus Deutschland angereist, passte während der Arbeitszeit auf die Kinder auf. Doch unüberwindbare Kommunikationsprobleme zwischen dem Küchenchef und dem übrigen Personal führten dazu, dass Christopher und Dorothee die Arbeitsstelle gleichzeitig verließen. In der besseren Gastronomie waren ihnen fortan die Türen versperrt. Dafür hatte der Gastronom in einem Rundumtelefonat gesorgt. „Das war unser Glück“, sagt Christopher im Nachhinein. Anfangs sah es allerdings ganz nach dem Gegenteil aus. „Woll“, sagt er jetzt. Es klingt eifrig und überzeugt und er grinst sein jungenhaftes Lächeln. Er begann im Frühjahr beim Campingplatz in Klausen zu kochen. Immer stärker wurde sein Interesse an Musik und an Geschichten. „Geschrieben habe ich schon immer wahnsinnig gerne“, sagt er und blättert in seinem Buch, seinem großen Schatz. In schöner Handschrift und fein säuberlich sortiert stehen dort Gedanken, Sätze, Gedichte und Geschichten.
Ab 2011 besuchte er im Kassianeum in Brixen Gitarrenkurse, Kinderschminkkurse, lernte Bilderbuch-und Schattentheater kennen. Seine Tochter lud ihn zum Schattentheaterspiel in den Kindergarten ein. Im August 2014 erzählte er im Auftrag der Bibliothek Klausen vier Wochen lang Geschichten für Kinder und bot einen Erzählabend für Erwachsene an. „Das war mein Einstieg“, meint Christopher. Dann kam der Moment, in dem er sich sagte: „Das mit der Gastronomie ist definitiv vorbei.“ Seine Frau war am Anfang überrascht, auch erschrocken: Sie ahnte, dass er über den Wechsel nicht nur reden, sondern ihn auch vollziehen würde.
Christopher fand immer häufiger Leute, die ihn nicht mehr seiner Küche wegen fragten, sondern wegen seiner Geschichten. Die Familienkasse füllt sich nicht von allein. Im Winter 2013/14 arbeitete er nochmals eine Saison lang bei seinem früheren Arbeitgeber in Terenten. Doch dass er während der Saison Fortbildungen zu improvisiertem Erzählen besuchte und ein paar Urlaubstage für Auftritte brauchte, die es auch im Winter gab, irritierte seinen Arbeitgeber vermutlich zu sehr: Im Winter darauf war die Stelle plötzlich vergeben. „Wie kann man auch so etwas Komisches tun?“, fragt Christopher und lächelt. Die Konformität hat er auch bei der Kleidung abgelegt. Je farbiger und bunter sie ist, desto besser: aufbrechen, nicht entsprechen.
Die Aufträge von Bibliotheken nehmen zu. Inzwischen gibt es viele, die ihm sagen: „Wir buchen dich, entwickle etwas für uns.“ Da fühlt sich Christopher daheim: Er liebt das Spontane, das Flexible, greift gerne das auf, was da ist. In dem Sinne kommt ihm auch das Haus der Solidarität gelegen. Als er im Mai 2015 auf dessen Facebook-Seite die Nachricht las, dass mittags hin und wieder Kochhilfe gefragt sei, sagte er spontan zu und kocht seither mittwochs für die Bewohner*innen, Gäste und Mitarbeiter*innen des Hauses. Dort heißt es: „Koche mit dem, was da ist.“ Da helfen keine Rezepte oder Konzepte, nur Flexibilität.
Seit 2015 arbeitet seine Frau vom Nachmittag bis spätabends als Baristin. Christopher hat die Verantwortung für die Hausarbeit übernommen und kümmert sich um die Kinder. „Bei uns daheim ist viel Chaos“, sagt er und grinst: „Wir leben lustig vor uns hin, tun, was uns gefällt.“ Pippi Langstrumpf steigt vor den Augen auf, Villa Kunterbunt und jede Menge Freiheit. Die Kinder freuen sich, wenn Christopher sie mit zu seinen Veranstaltungen nimmt. Tochter Maya lernt seit einem Jahr Cello, hin und wieder baut er sie ins Programm ein, der zwölfjährige Valentin hat seinem Vater im vergangenen Jahr beim Zugluftfest geholfen. Da hat Christopher gekocht, nicht Geschichten erzählt.
Neue Märchen erzählt er zuerst sich selbst, dann geht er spazieren und redet vor sich hin. Abends schreibt er die Geschichten, bestückt seine Blogs „Schatten.Licht.Toene“ und „Nachtmahl“, lernt Flöte, übt Gitarre. Entwicklung ist ihm wichtig: Christopher lässt sich schulen, seine Stimme bilden, lernt unter anderem bei der Märchenerzählerin und Philosophin Margarete Wenzel in Wien, nimmt an deren Erzählnacht teil, hängt Lernwochen in der Wiener Märchenakademie an. Gleichgesinnte üben dann zusammen, erzählen sich Geschichten. So hat er zum Beispiel eine Feuertänzerin aus Sillian kennengelernt, mit der er inzwischen zusammenarbeitet. Gemeinsam bieten sie Kleinkunst mit Tanz und Geschichten am Feuer an. Schon zwei Erzählnächte hat er mit ihr auf einem Hof im Gsieser Tal organisiert und durchgeführt.
In den Geschichten übernimmt er alte Volkserzählungen, hat mündlich überlieferte Geschichten aufgeschrieben, liest alte Märchenbücher, merkt sich Handlungsstränge, baut die Geschichten um, gewichtet neu, notiert nur Stichworte, erzählt in eigenen Worten. Das ist wichtig: Seine eigene Sprache, überhaupt sein Eigenes zu finden. „Ich entkleide alte Geschichten und bestücke sie neu.“ Er weiß: „Wenn du fünf Menschen beauftragst, das gleiche Märchen zu erzählen, kommen fünf unterschiedliche Geschichten heraus.“ Das Erzählen fasziniert ihn, da muss er nicht auswendig lernen, das mag er nicht, der Handlungsstrang reicht ihm, Worte hat er und eine laute Stimme auch: „Kommt von der Stimmbildung.“
Christophers Familie hat keinen Fernseher daheim. Manchmal leihen Dorothee und er DVDʼs aus und schauen einen Film an. Das sei etwas anderes, da sei eine bewusste Wahl getroffen worden. „Wenn man nach Hause kommt und einen Fernseher anmacht, ist man verloren“, glaubt er. Zu Beginn seines Veränderungsprozesses hat er sich oft gefragt: „Was bin ich?“ Inzwischen definiert er sich als Künstler, auch wenn er sich noch am Anfang wähnt. Dann zitiert er einen Satz von Margarete Wenzel, den er sich zu eigen gemacht hat: „Es ist besser, sich nicht zu fürchten, sondern fröhlich, unbekümmert das zu tun, was man mag und vergnügt zu schauen und zu lauschen, was die andern tun.“ Das gefällt ihm, seine Augen leuchten. War er früher der Meinung, Künstler könne man nur sein, wenn man studiert hat, hat er diesen Gedanken längst abgeworfen: „Ich bin flexibel, kann frei agieren, bin ein Quereinsteiger.“ Am Anfang sei er zwar „unheimlich unsicher“ gewesen, doch inzwischen verbindet er, was er kann und was ihm Freude macht: Manchmal bereitet er für seine Zuhörer*innen in marokkanischen Berber-Tajinetöpfen orientalisch gewürzte Speisen zu, erklärt, wie er mit dem Lehmkochtopf kocht und welche Geheimnisse sich darin verbergen. Und während die Speisen leise köcheln, erzählt er von sagenhaften Kräutern, von märchenhaften Speisen und von der Liebe aus Tausendundeiner Nacht.
Und wenn er nicht gestorben ist: Damit hören Märchen auf. Da es sich hier aber um einen kochenden Märchenerzähler handelt, drängt sich abschließend die Frage auf, was Christopher am liebsten isst: Nudeln mit Olivenöl und Knoblauch, scharf gewürzt mit Pfeffer und Chili. So sind manche seiner Märchen auch.
Dieser Beitrag von Maria Lobis stammt aus der Ausgabe 03/2016 der Straßenzeitung zebra.