Surrealistische Welten

„Ich hatte früher viel mehr geschrieben, dann ergab sich das Interesse für Film. Nun hat sich der Stil, den ich bei den Filmen verfolge, auch in den Texten niedergeschlagen“ beschreibt Christoph Waldboth seinen besonderen literarischen Stil. Seit der Facharbeit an der Oberschule (Kunstgym) fesseln ihn surrealistische Zugänge. „Der Surrealismus arbeitet viel mit Traum- und Wahnvorstellungen, da sehe ich ein großes Potenzial für meine Arbeiten. Was visuelle und erzählerische Darstellungsformen angeht, wird frei von jeder Logik agiert. Das gefällt mir.“
Das Schlüsselerlebnis für Waldboth war der Kinoklassiker von David Lynch: Mulholland Drive. „Es war zum ersten Mal, dass ich verstanden habe, dass ein Film nichts erklären muss. Mullholland Drive ist bis heute mein persönlicher Lieblingsfilm geblieben.“
Seine Maturaarbeit war dann auch ein Filmprojekt, mittlerweile studiert Waldboth das Fach. Vor kurzem hat er mit Desiderium einen Kurzfilm vorgelegt, der bereits auf kleineren Festivals in München und Los Angeles lief.
In der Literatur verfolgt Waldboth einen ähnlichen Weg. Er sucht die Distanz zur realen Welt, oder er benutzt die reale Welt, um surrealistische Welten entstehen zu lassen. Bei den Autorentagen am Stadttheater in Bozen erzählte er am vergangenen Freitag die Geschichte von Adam und Eva auf seine Weise weiter. „Ich werfe einen recht pessimistischen Blick auf das Ganze. Es nimmt ein schlechtes Ende für die Protagonisten.“
Textauszug:
Der Garten Eden
Es war ein sonniger Tag im Garten Eden. Der Mann blinzelte der heißen Sonne entgegen und ließ den Kopf kreisen. Seine Gedanken flogen durch die Lüfte, unbeirrt von neuen Strömen und Einflüssen, die im Sekundentakt auf ihn einhämmerten. Eden war ruhig und Eden war schön, aber Eden war auch ein Ort, der ein dunkles Geheimnis barg. Der Mann senkte den Kopf und blickte zu Boden. Gelbliche Blätter krochen geschäftig über den Erdboden. Der Herbst hatte Eden erreicht. Nun begann die Zeit des Sterbens, wenn alles und jeder in seine Urform zurückkehrt und sich in geschützte Orte verkriecht. Der Mann spazierte über eine saftig grüne Blumenwiese, vorbei an hinplätschernden Bächen und blühenden Sträuchern, bis zu einem hohen Baum, unter dem, an die harte, braune Rinde gelehnt, die Frau saß und sich glücklich lächelnd die Augen rieb. Der Mann setzte sich zu ihr und gab ihr einen Kuss. Die Stelle auf der Wange der Frau, an dem sich die beiden trafen, errötete kurz und schüchtern zog sie ihren Kopf zurück.
Der Mann ließ sich nun vollends nieder und verlor sich im Nichtstun. Auch die Frau blieb regungslos sitzen. Die Zeit verstrich so, wie sie an einem Ort wie Eden verstreicht, und es wurde Nacht und es wurde Tag. Doch kein Neuer begann, da die Zeit in Eden zwar verging, aber nichts Neues brachte. An einem zeitlosen Ort kann es keine temporäre Entwicklung geben. Wahrscheinlich wären Mann und Frau noch bis ans Ende einer nicht vorhandenen Zeit an dem Baum gesessen, doch selbst im Schlaf plagten die beiden die Gedanken, die sie am Tage auszublenden geschafft hatten. Der süße Geschmack des Satans erreichte ihr Bewusstsein und zog sich durch die Venen ihrer Körper. Der Mann und die Frau bereuten ihre Taten und sahen abermals ein, dass ihre Nacktheit ihr eigenes Verschulden war. Je länger sie von der Frucht des Teufels träumten, desto bitterer wurde dessen Geschmack und desto deutlicher merkten sie, dass sie beide verflucht waren.
Und da selbst ein wiederkehrender Albtraum nicht ewig andauern kann, wurden Mann und Frau nach langen Tagen von einem starken Sturm geweckt. Blätter wirbelten von kargen, schwarzen Bäumen und nahmen den Menschen jede Sicht. Blind erhoben sich Mann und Frau und stolperten über den verbrannten Acker, der zuletzt eine strahlende Wiese gewesen war. Sie streckten die Hände nacheinander aus und bekamen sich auch zu fassen, doch nur, um gleich darauf wie von unsichtbaren Händen gefasst durch die Luft geworfen zu werden. Ihre Körper küssten harten Fels und trennten sich wieder voneinander. Mann und Frau blickten sich durch die fliegenden Blätter an und wechselten stumme Hilferufe. Der Ausgang, wo war der Ausgang? Eden besaß einen, soviel wussten die beiden, doch wo und was dieser war, das wusste keiner von ihnen. Der Mann riss den Kopf nach oben, und impulsiv wie er war, brüllte er nichtssagende Schreie in den Himmel. Gespannt lauschten Mann und Frau ob denn eine Antwort zurückschallen würde, doch stattdessen wurde der Sturm noch arger und zwang die beiden zum Weitergehen. Da ertönte ein tiefes Brummen, das ganz Eden zum Beben brachte und die Blätter vor ihnen teilten sich. Ein hell erleuchtetes Tor mit großen Türen, die weit offenstanden, war direkt vor dem Paar, auf einer weiten, leeren Ebene. Die Frau versuchte vergeblich die weißen Konturen hinter dem Tor zu erkennen, doch ihre Augen weiteten sich so weit, dass sie das Weiße in ihnen komplett verdeckten und sie einer Eule nicht unähnlich sah. Frohen Mutes packte der Mann die Frau am Handgelenk und zerrte sich in Richtung des Ausgangs. Doch je näher sie der Tür kamen, desto weiter rückte sie in die Ferne und desto mehr schlossen sich ihre Flügel. Schließlich wurde das Tor komplett vom Erdboden eingesaugt, und dort, wo es einst stand, klaffte nun ein tiefes Loch. Der Mann und die Frau schlichen vorsichtig an den Rand des Abgrunds und spähten hinab. Am Grund des Loches saßen zwei Gestalten, Menschen recht ähnlich, doch entstellt und ohne Arme und Beine. Die beiden dort unten blickten verzweifelt nach oben und geiferten nach Rettung. Mann und Frau oben am Rand des Loches tauschten Blicke aus und lachten hämisch über das Schicksal der dort unten. Doch dann näherte sich ein leises Geräusch. Die Frau drehte sich im Kreis und versuchte die Quelle dessen ausfindig zu machen. Auch der Mann sah sich hektisch um. Dann erkannten beide, dass es das stille Plätschern des Regens war, der einsetzte. Roter Regen war es, der in dicken, große Tropfen vom Himmel stürzte und den Garten überschwemmte. Das Loch wurde aufgefüllt und wurde zu einem See. Mit dem Regen blutete der Himmel jedoch noch mehr aus. Zahllose Körper fielen herab und klatschten mit lauten Geräuschen in den klebrigen Blutsee. Der Mann und Frau sahen ratlos mit an, wie die Körper sich in der Säure des Blutes auflösten und nur einzelne Extremitäten warnend nach oben zeigten, während der Rest in der Tiefe versank.
Spätestens jetzt erkannten die beiden, dass ihre Zeit in Eden abgelaufen war, und dass es nun nichts Wichtigeres geben konnte, als diesen Ort zu verlassen. Der Mann beratschlagte sich mit der Frau, während immer mehr tote Körper vom Himmel fielen und nun auch die rote Ebene rund um den See mit Menschen pflasterten. Da traf es den Mann wie ein Schlag. Bei einem genauen Blick in das tiefe, dunkle Rot des Gewässers glaubte er, am Grund des Sees einen Ausgang zu sehen. Eine schlichte Holztür mit eisernen Griff lag dort unten und wartete nur darauf, geöffnet zu werden. War dies die Rettung aus Eden? Der Mann teilte seine Entdeckung der Frau mit, doch diese verneinte mit ängstlichem Blick den Vorschlag, hineinzuspringen. Vorsichtig streckte der Mann einen Fuß aus und berührte damit die Oberfläche des Sees. Sogleich zog er ihn wieder zurück, atmete jedoch erleichtert auf. Das Blut war kühl, jedoch nicht zu kalt, um den Tauchgang zu wagen. Er wollte der Frau zeigen, dass keine Gefahr bestünde und ließ seinen Körper im Blut verschwinden, sodass nur mehr sein Kopf hervorblickte. Die Frau bat ihn zitternd, sein Vorhaben zu unterlassen. Doch der Mann wollte sein Ziel, welches nur wenige Meter unter ihm wartete, nicht aufgeben. So vergaß er seine Liebe zur Frau und vernichtete jedes Bündnis, welches je zwischen den beiden geschlossen wurde, um sein Dasein aufzugeben und sich dem See hinzugeben. Voller Kraft tauchte er hinab in die Dunkelheit. Er schwamm und schwamm und merkte schon bald, wie sein Körper unter der enormen Strömung nachgab, wie er müde wurde und schlaff. Die Tür war nur mehr wenige Meter entfernt, fast zum Greifen nah, doch rückte sie scheinbar immer weiter weg, und einzelne Glieder der vom Himmel gefallenen Leichen stellten sich ihm in den Weg. Endlich erreichte der Mann die Holztür und wollte sie aufreißen. Aber die eiserne Klinke gab nicht nach. Die Tür blieb verschlossen, egal, wie sehr er daran zerrte. Je länger er daran zog, desto näher rückte die Dunkelheit des Sees und desto geringer wurde die Luft, die zum Atmen blieb. Seine Lungen zogen sich zusammen und bald schon erlosch sein Augenlicht. Blind zuckte er hin und her, bekam die Klinke erneut zu greifen, doch auch jetzt gab sie nicht nach. Dünne, schlaffe Arme packten den Mann von allen Seiten und zogen ihn weiter in die Dunkelheit, wo niemand mehr sagen konnte, was dort wartete. So endete der Mann im Unbekannten, blind, ohne Atemluft und ohne Rettung.
Die Frau indes wartete weiterhin am Ufer des Sees und merkte nichts von alldem. Sie betete ein leises Gebet, sprach Worte, die sie nicht kannte, und merkte, als sie das letzte Wort gesprochen hatte, wie Eden seine Grenzen näher rücken ließ. Die schwarzen Wälder kamen immer weiter auf sie zu und schufen einen beengten Raum, der so undurchdringbar schien, dass der See die einzige Möglichkeit der Flucht darstellte. Die Frau schrie und weinte unentwegt und trauerte aufgrund des Todes des Mannes. Sie fiel auf die Knie und schlug die Fäuste in die blutbefleckte Erde. Schon platzten erste Wunden in ihrer zarten Haut auf. Ungläubig hob die Frau die Hände und betrachtete die dünnen Blutströme, die an ihrem Körper nach unten rannen und sich mit dem Erdboden vereinten. Die Tränen, die aus den großen, runden Augen rollten, verbrannten auf der Haut und hinterließen dunkle Brandspuren. Vor lauter Schmerzen heulte die Frau, während die Wälder weiter den Raum stahlen. Auch sie blickte zu der Tür, die nun hell strahlte und verlockend nach ihr rief. Der Ausweg schien nahe und verführerisch wie der Diener des Satans persönlich. Bevor die Frau jedoch noch länger nachdenken konnte, hob sie ein enormer Windstoß in die Lüfte und warf sie in hohem Boden nach oben, von wo sie engelsgleich mit ausgestreckten Armen aber kerzengeradem Körper nach unten in den See sank. Ohne auch nur eine Welle zu erzeugen durchbrach sie die Oberfläche und tauchte hinab. Der Windstoß schaffte es sogar, die Holztür einen Spalt aufzustoßen. Freudig machte sich die Frau Hoffnung auf den Ausweg aus Eden. Als sie bei der Tür ankam, und sie bereits nach der Klinke greifen wollte, säuselte ihr eine süße Stimme einige Worte ins Ohr. Die Frau blickte überrascht auf, sie warf einen Blick in die Dunkelheit unter ihr, wandte sich dann jedoch wieder der Tür zu. Entschlossen packte sie den Griff und zog sie auf. Ächzend sprang das Tor auf und vor der Frau lag der Ausgang. Abermals lauschte sie der lieblichen Stimme und vergaß in ihren Gedanken an den Mann völlig ihren Lebenswillen und dass sie nicht ewig dort unten verweilen konnte. Die Luft in ihren Lungen wurde von einem kalten Sog ausgesaugt wie die Früchte an den Bäumen des Gartens. Einen Fuß bereits im Licht brach die Frau zusammen und starb an der Schwelle des Garten Edens an der Liebe und am Schmerz zu dem einzigen Menschen, den sie je glaubte zu kennen.