Politik | Türkei-Terror

Mit Kochtöpfen gegen Erdogan

Nach dem verheerenden Blutbad von Ankara ist es in allen Teilen der Türkei zu Massendemonstrationen gekommen. In Istanbul wurden dazu auch Kochtöpfe benutzt.

Ein Höllenlärm schreckte mich gestern abend in unserer Wohnung in Istanbul auf. Als ich das Fenster aufriss, bekam ich die Erklärung dafür: alle Bewohner unseres Viertels trommelten vor offenen Fenstern oder Balkontüren mit Bestecken auf Kochtöpfe, um gegen den Terroranschlag von Ankara zu protestieren.  

Aus dem nahegelegenen Istiklal klangen die Protestchöre der zehntausenden kurdischen und oppositionellen Demonstranten, die sich spontan zusammengefunden hatten, um die Hintermänner des  Massakers vor dem Hauptbahnhof von Ankara zu verdammen: Erdogan, Dieb, Mörder stand auf den Spruchbändern zu lesen.

Die Polizei schritt gestern abend nicht ein,  nachdem sie vor und nach dem Attentats eine jämmerliche Figur abgegeben hatte. Ausgerechnet in der Türkei, wo die Geheimdienste eine totale Kontrolle über alle Bürger hätten, konnten sich Kamikaze frei in der Hauptstadt Ankara bewegen, lautete der Vorwurf des Chefs der gemässigten Kurdenpartei Demirtas. 

Dass sich keine Sicherheitskräfte zu Beginn der Friedensdemonstration auf dem Bahnhof sehen liessen, ist wohl auch darauf zurückzuführen, dass sie von den Attentaten wussten und sich in sicheren Distanz fernhielten. Dass die Polizei nach dem Attentat Helfer verprügelte und Wasserwerfer einsetzte, ist nicht zu fassen.

Die Zahl der Toten stieg Sonntagnachmittag auf 128. Damit ist das Attentat von gestern das blutigste in der jüngeren Geschichte der Türkei.

Eine dreitägige Staatstrauer wurde ausgerufen. Die riesigen türkischen Nationalflaggen wehen auf Halbmast.

Bisher hat sich keine Gruppe zum Attentat bekannt. Das ist seltsam, weil Kamikaze-Attentäter doch meistens im Namen von Organisationen handeln, die auf diese Weise auf sich aufmerksam machen wollen. 

Der IS hatte bereits gestern in einem Tweet seiner Genugtuung über das Attentat Ausdruck verliehen. Doch bekannt hat er sich nicht dazu.

Staatspräsident Erdogan profitiere vom Attentat , glaubt ein Teil der öffentlichen Meinung. Vor allem die Kurden sehen ihn als Drahtzieher. Sie werfen Erdogan vor, dass er die Stimmung stark aufheizen will, um eine gewaltsame Reaktion der Kurden herauszufordern.

Der bewaffnete Konflikt mit der PKK könnte die Nationalisten unter den Wählern bestärken, wieder die AKP-Partei von Staatspräsident Erdogan zu wählen, heisst es. 

Dabei geht es weniger um Nationalismus, den der Staatspräsident anstacheln will  als um Geschäfte, Milliarden und Riesenaufträge, die den Clans um Erdogan im Fall seines Sturzes verloren gehen würden. "Nicht Erdogan müssen wir fürchten, sondern die, die ihn wählen", sagte mir ein regimekritischer Istanbuler Geschäftsmann. 

Dazu gehören die Millionen von einfachen Menschen vom Land und den Peripherien der Gross-Städte, die in Erdogan immer noch eine Art Messias sehen. Er hat ihnen erlaubt, wieder frei die Religion auszuüben. Er hat ihnen Arbeit und Wohnraum gegeben.  Strassen bis ins Landesinnere und Krankenhäuser auch in peripheren Zonen des Staates: all das gab es erst durch Erdogan.

Dieser Teil des Volkes steht weiterhin hinter Erdogan. Nicht so die Wirtschaftstreibenden, die Freiberufler und Industriekapitäne, die mit dem Ausland Geschäfte machen. Sie verzeichnen grosse Verluste, seitdem das Land durch die diktatorische Politik Erdogans instabil und unzuverlässig geworden ist. Sie sind es auch, die einen Sturz Erdogans herbeiwünschen.