Umwelt | Windbruch Karerpass

Wenn Millionen Bäume fallen

Wenn ein Baum fällt, hört man nichts. Doch wenn Millionen fallen, spürt man den Wald sterben... Eindrücke vom Karerpass
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Ein Lichtblick
Foto: Foto: Andrea Düchting

Selten habe ich eine so starke Reaktion auf ein Naturereignis empfunden und so stark den Schmerz gespürt. Ein Baum stürzt, oder eher ein Baum wird umgestürzt, umgeworfen von einer rund 200kmh starken Windbö, die in seinen Wipfeln spielt, ihn erzittern lässt, ihn hin- und herschleudert, ihn anschreit und letztlich in die Knie zwingt. Er kann dem Druck nicht mehr standhalten und bricht wie ein dünnes Streichholz entzwei oder stürzt samt Wurzelwerk ins bodenlose, reißt andere mit sich in den Abgrund, entblößt das Zuhause zahlreicher Insekten, die unter und mit ihm leben. Eine 100 Jahre alte, gestandene Fichte stirbt, eine 100-jährige Tanne schüttelt im Fall ihre Zapfen ab, eine 100 Jahre alte Lärche verliert ihre Farbenpracht, eine 100-jährige Föhre bleibt ohne Krone zurück. Sekunden werden zu Minuten, Minuten zu Stunden. Zwei Stunden werden zu Millionen Sekunden und hinterlassen millionenfache Tote. Tragische Szenen spielten sich ab. Ein Kampf gegen die Natur. Ein Sturm, eine Windbö verursachten ein Schlachtfeld ungeahnten Ausmaßes.

Die Bilder, die mich am Montag Ende Oktober in Rom erreichen, lassen mich erschrecken. Umgestürzte Bäume auf dem Schönblickweg in Welschnofen, an dem lediglich fünf entlegene Höfe liegen, und der seinem Namen mit seiner Aussicht auf die umliegenden Dolomiten und seinen Nadelwäldern alle Ehre gibt. Selbst Sissi wanderte einst auf seinen Pfaden. Doch Anfang letzter Woche war der Weg durch umgestürzte Bäume versperrt, kein vor, kein zurück. Kein Strom. Nur Chaos. Ein Windsturm mit Starkregen zog über den Zeynaberg hinüber zum Karerforst und wieder zurück. Welch Kapriolen er schlug, ist im Nachhin schwer zu durchschauen. Kreuz und quer liegen die Bäume. Kein vor, kein zurück. Vereinzelte haben alleine oder in kleinen Gruppen den Sturm überstanden.

So recht glauben, mag ich es am Folgetag noch immer nicht. Mir fehlt die Vorstellung des Ausmaßes. Man gibt mir zu verstehen, dass der Karerpass gesperrt sei, kein Zugang zu den Höfen, der Strom nur zum Teil zurück und die Situation katastrophal. Ein zuvor angedachter Besuch über Allerheiligen sei eindeutig fraglich und schwierig. Der Notstand besteht und wird doch nicht ausgerufen. 

Dann trudeln langsam die Bilder ein. Der Anblick des Pitschöler Hofs geht online und erreicht mich schließlich am Freitag. Dronenbilder vom Karersee, vom Pass, von den umliegenden Höfen zeigen die Realität, das erschütternde Ausmaß. Die Bilder ergreifen mich von Kopf bis Fuß. Ein Gebiet, dass mir seit über 20 Jahren vertraut ist, ist völlig zerstört. Die abgelichteten Höfe auf denen Menschen leben, die mich seit meiner Jugend begleitet haben, sind plötzlich nackt, waldlos, ihre Hänge kahl gefegt. In anderen Worten: Der Karerforst liegt danieder, den Karersee umsäumen kahle Flächen, der Pitschöler Hof hat weder oben noch unten einen Forst. Man würde lügen, wenn man von Schneisen reden könnte, nein es ist, was es ist, eine pure Verwüstung, ein Schlachtfeld. Die Bilder gleichen einem Kriegsschauplatz und schockieren. Man kann sie drehen und wenden, von oben mit der Drone drauf schauen, mit altbekannten, nun vergangenen Bildern vergleichen. Das Ausmaß bleibt das selbe: Katastrophal. 

Der Schock versetzt mich in eine Starre. Ich mag es nicht glauben, will es nicht wahrhaben, mein Herz zieht sich zusammen, die Beklemmung steigt, verengt meinen Brustkorb und die ersten Tränen beginnen mir die Wange herabzufließen. Wenn ein Baum fällt, mag man ihn nicht hören, doch wenn Millionen fallen, spürt man den Wald sterben… Hier ist deutlich etwas gestorben, brutal zerstört, aus dem Leben gerissen und zum Tode verurteilt worden. Ich spüre meinen Körper zittern, meine Gefühle entgleiten. Als würde der Wald in persona neben mir stehen, merke ich den Zerfall, wie er mich traurig macht, schockiert. Nichts und niemand hätte diesen zerstörerischen Windsturm aufzuhalten vermocht. Und doch kann niemand leugnen, dass hier der Klimawandel im Gange ist. Der Mensch entzieht sich bei Naturgewalten seiner Verantwortung, fühlt sich machtlos, und ist doch verantwortlich für das Ausmaß, den Schmerz den wir der Natur zufügen. Wir wollen immer mehr, höher, schneller, weiter und propagieren gleichzeitig Achtsamkeit, Gesundheit, Ausgleich oder mehr work-life-balance. Wir zerstören ohne es bewusst wahrzunehmen und könnten es doch steuern. Wir missachten, was vor uns liegt, treten das Lebensnotwendige, Wundervolle und Kostbare mit Füßen. Und wundern uns doch, wenn sich die Natur gegen uns wendet. Die Natur wird sich erholen, sich neu erschaffen. Der Mensch wird sich immer langsamer erholen, die Kraft wieder aufzustehen und sich neu zu erschaffen wird schwächer.

Doch Chaos schafft auch Energie. Und keine Woche später sitze ich im Zug gen Bozen und im Bus gen Karerpass. Ich merke wie sich mein Körper versteift, welch Angst ich vor dem Anblick habe, vor den Gefühlen, die aufkommen werden sobald ich das Ausmaß mit eigenen Augen sehe. Bilder sind das eine, die Realität vor Augen ist das andere. Natürlich hält der Bus aufgrund der Waldarbeiten just an einer Stelle, von wo aus man bis dato nie den Pitschöler Hof hatte erblicken können, denn ein dichter Nadelwald machte ihn zu einem Juwel, vor den Augen der Außenwelt versteckt. Nun ist freie Sicht auf den Schönblickweg. Nichts können die Bewohner des Pitschöler Hofs, des benachbarten Dritscher und Ladritscher sowie des Sohler Hofs und der Meierei mehr unbeobachtet lassen. Ebenso freie Sicht auf den Karersee, den Rosengarten, den Latemar. Ich schaue nach links, schaue nach rechts, doch das Bild ändert sich nicht, der Karerforst besteht nur noch in Teilen. Desto länger der Bus verweilt, desto drückender wird die Luft. Erneut füllen sich meine Augen mit Tränen. Ich weine um den Anblick des schieren Unglücks, der Gewalt, des Schmerzes, und letztlich aus Wut um des Menschen eigener Dämlichkeit. Die Massen an toten Bäumen tun einfach weh. 

Der Bus erwacht aus der gefühlten Schockstarre. Und nur wenige Momente entfernt empfängt mich die Herzlichkeit und Gefasstheit der Bewohner des Schönblickwegs. Der Schock sitzt tief, das Entsetzen ist in ihre Gesichtern geschrieben, die Emotionen liegen brach. Es wird über die Momente des Sturms berichtet, das Chaos danach, die Hilfsbereitschaft der Feuerwehr und der freiwilligen Helfer. Und doch schaut man nach vorne. Nimmt sich Zeit für einen Spaziergang, einen Plausch, ein Glas Weißen. Vögel zwitschern, Ziegen meckern, Pferde wiehern, Schafsglocken schallen und die Sonne strahlt wieder, wärmt die Gemüter. Der Kriegsschauplatz wird kurz ausgeblendet, um bewusst nach vorne zu schauen. Denn die Solidarität der Nachbarn ist nicht gestorben, sie ist lebendiger denn je. Es stimmt, dass man einen fallenden Baum eher selten hört, aber Millionen stürzende Bäume spürt man, sie entwurzeln Wald und Mensch zugleich. Und doch entsteht aus dem Chaos Energie; eine Chance die Energie in eine positive umzuwandeln, die einen nach vorne schauen und Neues erschaffen lässt.