Gesellschaft | Sensibilisierung

Von Grenzen und Gewalt

Die Südtiroler Hebammen wenden sich mit einem sensiblen und heiklen Thema an die Öffentlichkeit: “Wir müssen über Gewalt in der Geburtshilfe reden”, sagt Sara Zanetti.
Schwangere
Foto: Pixabay

“Alle, die in diesem heiklen und sehr sensiblen Bereich arbeiten, müssen sich dem Thema ‘Gewalt’ stellen.” Damit meint Sara Zanetti auch sich und ihre Berufskolleginnen. Zanetti ist die neue Vorsitzende des Kollegiums der Südtiroler Hebammen – dem Berufsverband der Hebammen, die in der Provinz Bozen tätig sind. Derzeit sind knapp 200 Hebammen im Kollegium eingeschrieben.
Zanetti selbst ist seit zwölf Jahren Hebamme, sie arbeitet am Krankenhaus Brixen – und tritt nun mit einem heiklen Anliegen an die Öffentlichkeit.

Kürzlich hat eine weltweite Studie für Aufsehen gesorgt. Demnach waren in Italien in den vergangenen 15 Jahren rund eine Million Frauen von Gewalt in der Geburtshilfe betroffen. Südtirol wird dabei nicht explizit erwähnt, aber auch nicht ausgeschlossen. Doch Sara Zanetti weiß: “Gewalt in der Geburtshilfe findet auch in unserem Land statt.” Sowohl im Krankenhaus als auch bei Hausgeburten und in Ambulatorien seien werdende Mütter davon betroffen. Zanetti nimmt den medizinischen Notfall aus und spricht von “ganz normalen Geburten”. Von denen gibt es in Südtirol täglich etwa 15. Im Jahr 2016 wurden 5.447 Kinder geboren. “Dabei überschreiten Hebammen, Ärzte und PflegerInnen manchmal Grenzen, die nicht sein dürfen”, sagt Zanetti.

 

Worum es geht

Gewalt in der Geburtshilfe meine nicht, “dass medizinisches Personal die schwangere oder gebärende Frau absichtlich oder bewusst verletzt oder gar misshandelt”, stellt Zanetti klar. Vielmehr gehe es darum, dass es dem Personal häufig nicht möglich sei, “sich ganz auf eine Frau einzulassen und das notwendige Vertrauen in dieser außergewöhnlichen Situation”. “Es geht auch”, so die Brixner Hebamme weiter, “um entblößtes Herumliegen bei offener Tür, um fehlende Informationen an die werdenden Mütter, um Vorschriften und Richtlinien, die die Bedürfnisse der Frauen hinten anstellen, um vaginale Eingriffe ohne Zustimmung der Gebärenden und um eine gewisse Hörigkeit dem medizinischen Personal gegenüber”.

“Jede einzelne medizinische Intervention braucht die Zustimmung der Gebärenden”, fährt Zanetti fort. Manchmal sei es auch “‘nur’ ein falsches Wort oder ein unpassender Satz, der die Situation während der Geburt zuspitzt und das notwendige Vertrauen unterbindet”.

Der Fehler liege vielfach im System, ist das Kollegium der Hebammen überzeugt: zu wenig Zeit für die einzelnen Gebärenden, strukturell vorgesehene Abläufe und Vorschriften, die die Wünsche der Frauen in den Hintergrund rücken. “Vielfach fehlt es den Gebärenden auch an Wissen und Selbstbestimmtheit”, sagt Sara Zanetti. Sie fordert mehr Aufgeschlossenheit und Achtsamkeit dem Thema gegenüber. Denn der Druck des medizinischen Personals, die vorgegebenen Arbeitszeiten und die nicht planbaren Geburtszeiten öffneten der Gewalt in der Geburtshilfe die Tür, “auch wenn sich die gebärenden Frauen ihrer manchmal nur unterschwellig gewahr werden”.
Ihre Stellvertreterin im Kollegium der Hebammen, Astrid Di Bella – sie war selbst lange Vorsitzende – stimmt Zanetti zu. Mehr Sensibilität sei gefragt, so Di Bella. Die freiberuflich tätige Hebamme lädt Frauen und Familien ein, sich während der Schwangerschaft gut zu informieren und bei der Geburt ihre Wünsche klar zu äußern.

“Wir müssen über Gewalt in der Geburtshilfe reden!”, unterstreicht Sara Zanetti. Anklagen will sie niemanden. Auch die Verantwortung als Hebamme abwälzen will sie nicht, betont sie. Sondern Bewusstsein unter allen schaffen, die bei einer Geburt involviert sind: “Das Kollegium der Südtiroler Hebammen ist überzeugt, dass die Situation in Südtirol besser ist als andernorts. Nichtsdestotrotz sind die öffentliche Diskussion und die Sensibilisierung des medizinischen Personals und der Bevölkerung notwendig.” Im kommenden Jahr will sich das Kollegium der Hebammen daher dem Thema “Gewalt in der Geburtshilfe” verstärkt widmen. Fortbildungen und Treffen dazu sind geplant.