Eine Autorin fordert die Politik heraus
Das Ereignis wird durch die Polemiken um die bevorstehende Regierungsumbildung überschattet. Doch was sich am Sonntag bei den Regionalwahlen in Sardinien abspielt, verdient durchaus Beachtung. Denn auf der Insel hat sich die Zivilgesellschaft zum Kampf gegen die erstarrte Parteienlandschaft formiert. Die politische Situation gleicht einem Desaster: gegen 46 Abgeordnete des Regionalrats laufen Ermittlungen wegen Mißbrauchs öffentlicher Gelder. Drei befinden sich in Haft. Der Präsident Ugo Capellacci hat drei Gerichtsverfahren am Hals, was ihn nicht an einer erneuten Kandidatur hindert. Fast die gesamte Forza Italia-Riege stellt sich trotz aller Skandale wieder den Wählern.
Auch der Partito Democratico hat kaum Grund zur Genugtuung. Seine Spitzenkandidatin Francesca Barraciu, Siegerin der Verwahlen, musste sich kurzfristig wegen gerichtlicher Ermittlungen zurückziehen. Der M5S, der vor einem Jahr auf der Insel fast 30 Prozent erhalten hatte, stellt sich nicht der Wahl - offiziell wegen interner Streitigkeiten. Grillos Furcht vor einer erneuten Niederlage wenige Monate vor den Europawahlen dürfte dabei eine wesentliche Rolle gespielt haben. Die Hälfte der frustrierten Wähler haben ihre Absicht bekundet, am Sonntag zuhause zu bleiben.
Vor diesem düsteren Horizont könnte die sardische Autorin Michela Murgia für einen Überraschungserfolg sorgen. Die 41-jährige, die durch ihren Bestseller Il mondo deve sapere und ihren mehrfachen ausgezeichneten Roman Accabadora bekannt wurde, hat zwei Bürgerlisten und die Unabhängigkeitsbewegung Progetu republica de Sardigna zu einer Koalition verschweißt, die unter dem Namen Sardegna possibile antritt: "Wir wollen die Insel von Grund auf reformieren", versichert die Querdenkerin, die vorher als Kellnerin, Religionslehrerin und Nachtportier arbeitete und in einem Call-Center Staubsauger verkaufte. Die 12 Mitglieder ihrer potentiellen Regionalregierung und ein detailliertes Programm hat die Autorin schon vier Wochen vor der Wahl vorgestellt: "Wir haben drei Monate lang die Bevölkerung angehört und ihre Wünsche ins Programm einfließen lassen", so Murgia.
Die sardische Unabhängigkeitsbewegung hat eine lange Tradition. Sie verzichtet bewußt auf Heimattümelei, patriotische und europafeindliche Slogans und fördert die Suche nach einer neuen Identitätsfindung. "Personen, nicht Parteien" ist einer von Murgias Slogans in einem Wahlkampf, den ihre Koalition mit wenig Geld und viel Enthusiasmus führt: "Unser Sieg ist keine Wahnvorstellung, sondern eine Notwendigkeit", versichert die kämpferische Autorin, die sich kein Blatt vor den Mund nimmt und eine Allianz mit dem Partito Democratico ausschließt. Italiens von politischem Dauergezänk und Parteienhader ermüdete Zivilgesellschaft blickt am Sonntag erwartungsvoll nach Sardinien und drückt Michela Murgia die Daumen - in der Hoffnung, daß die streitbare Schriftstellerin das Unmögliche möglich macht.