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Pornotopia – im Sog der Verfügbarkeit

Gastserie: Der Philosoph und Übersetzer Haimo Perkmann stellt neueste sexualwissenschaftliche Forschungsergebnisse rund um das Phänomen Pornografie vor. Teil 1

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Foto: Foto: Kulturelemente

La Repubblica, die Zeit, The Guardian, Le Monde,... Pornografie ist offenbar in Mode. 2017 finden sich erstaunlich viele Beiträge zum Thema, oft in Zusammenhang mit Frauenporno, seit kurzem auch in Kombination mit der Sexualmoral im Islam. Dabei mischen sich in unterschiedlicher Gewichtung Diskurse über Sex, Macht, Medien und Moral. Aber warum ist das Thema derzeit so aktuell?

Die User-Zahlen weltweit verraten, dass allein die Online-Pornografie mit jährlich über fünf Milliarden Dollar und einer Zugriffsrate von rund 68 Millionen Suchanfragen pro Tag eine der umsatzstärksten Branchen der Welt ist. Über 12 % der Webaufrufe in Deutschland, über 7 % in Italien sind pornografischen Inhalts. So gesehen müsste man die Frage also umdrehen und sich fragen, warum das Thema nicht noch viel aktueller ist?

Wie lässt sich die große Diskrepanz erklären, die zwischen der Wirtschaftsleistung und Popularität der Pornografie einerseits und der öffentlichen Aufmerksamkeit andererseits herrscht? Parallel zu unserem Umgang mit anderen unangenehmen Themen wie Tod, Krankheit oder Prostitution, führt auch die Pornografie eine gigantische Existenz im Abseits der Gesellschaft. So wie der Friedhof und die Bordelle, die einst in der Mitte der Dörfer und Städte waren und zum Leben dazu gehörten, doch im Laufe des 20. Jahrhunderts an die Ränder der grauen, anonymen Vorstädte gedrängt wurden, wo sie abseits vom Rampenlicht eine umso lebhaftere anonyme Bleibe fanden, hat auch die Pornografie ihren wahren Platz im anonymen Raum – und ist von dort aus zu einem zentralen Phänomen mutiert, seit es Online-Pornografie gibt. Zeitgleich wurden Abweichungen von pornonormativen Neigungen zunehmend zensiert und ausgemustert.

Die einzigen Orte, in denen Nacktheit und Sexualität in der Mitte der Gesellschaft öffentlich thematisiert werden, sind die Kunstgalerien und das Kino.

Nicht nur Pornografie, Sexualität generell führt im öffentlichen Raum zu Irritationen und Spannungen. So wird in fast allen Ländern Homosexualität erst so richtig angefeindet, seit sie sich öffentlich manifestiert. Der Schwule im Kleiderschrank war toleriert, weil öffentlich inexistent. Und er hütete sich davor, zum Gesprächsthema zu werden (stellvertretend als Beispiel: http://www.spiegel.de/panorama/welche-sexualregeln-der-islam-vorschreibt-a-892686.html; oder auch http://www.zeit.de/2017/10/pornofilme-sex-feminismus-erotik-adrineh-simonian). Auch außerehelicher Geschlechtsverkehr wurde in der Vergangenheit munter hingenommen, selbst bei Frauen, sofern die Öffentlichkeit nichts davon erfuhr. Dagegen müssen uninspirierte Erotikmessen (etwa jene in Lana) oder Swinger Partys (wie jüngst in Naturns) auch heute mit öffentlichem Hass und Häme rechnen. Nacktheit und vor allem Sex in der Öffentlichkeit sind noch immer ein Skandal und werden geahndet. Der sicherste Ort für den stärksten und intimsten Trieb der Natur ist die Anonymität. Das gilt auch für Porno-Konsumenten, die vorwiegend männlich sind. Nur 25–30 % der Online-Porno-User weltweit sind Frauen. Bei Bezahlseiten sinkt die Frauenquote wenig überraschend auf wenige Prozentpunkte. Die Gründe, warum jemand Pornografie konsumiert, sind erstaunlich vielfältig, das Spektrum reicht vom Cyber-Nerd, der sich aus dem öffentlichen Leben zurückzieht und keinen reellen Kontakt mehr wünscht, bis zum kollektiven Spaßkonsum unter Freund_innen.

Kunst und Kino

Die einzigen Orte, in denen Nacktheit und Sexualität in der Mitte der Gesellschaft öffentlich thematisiert werden, sind die Kunstgalerien und das Kino. Der Kunst ist gelungen, was sonst keinem gelungen ist, und das schon seit der Steinzeit: Nacktheit und Sexualität (selbst mit pornografischen Mitteln) öffentlich zu thematisieren und sogar zu sublimieren, statt in die Schmuddelecke gedrängt zu werden. Auch wenn Facebook es noch nicht mitbekommen hat. Natürlich gibt es auch in der Kunst immer wieder (nicht selten erwünschte) Eklats. Aber solange Facebook nicht die Weltherrschaft übernimmt, wird die Genitalpanik von Valie Export auch weiterhin im Internet zu sehen sein. Auch im Kino wagen sich Filmemacher immer wieder weit vor, doch gibt es im Grunde nur eine Handvoll Regisseure, die damit Erfolg hatten. Gerade die erdrückende Konkurrenz des repetitiven Pornofilms macht einen künstlerischen Ansatz im Film fast unmöglich.

Stellvertretend für unseren global verkorksten Umgang mit Sexualität eine kurze Anekdote: Während eines Besuches in einem indischen Schrein, der von unten bis oben voller männlicher Fruchtbarkeitssymbole war, erklärte der Guide im Flüsterton: „Es sind männliche Geschlechtsorgane.“ Warum flüsterte der Fremdenführer? wo wir doch ganz offensichtlich inmitten von hunderten Phalli in allen Größen, Farben und Materialien standen. Parallel dazu in Wien: in der Ausstellung von Vanessa Becroft im Wiener Museumsquartier raunt eine Frau in die Runde „die sind nackt.“

Der mündige User

Sexualforscher Sven Lewandowski weist in seiner Studie (vgl. Lewandowski,S. ,2012. Die Pornographie der Gesellschaft. Beobachtungen eines populärkulturellen Phänomens. Bielefeld: transcript) Die Pornographie der Gesellschaft darauf hin, dass die massenmediale Verbreitung pornographischer Bilder seit der Entwicklung geeigneter Medien stets auch als soziales Problem wahrgenommen wurde. Gerade in der Anfangszeit der Filmindustrie wurde mit Sorge konstatiert, wie unzüchtige Bücher durch die Entwicklung der Medien nicht nur Gentlemen, sondern auch Frauen, Kindern und vor allem den unteren Klassen zugänglich gemacht wurden.

Den Frauen, die in pornografischen Filmen selbst stets willig und bereit sind und Lust auf (fast) jeden haben, wurde im realen Leben vom Konsum unzüchtiger Filme dringend abgeraten. Während es im Film also immer wieder um die Vergewisserung der Lust der Frau geht, wird die Stimulierung derselben im realen Leben als problematisch empfunden. Nicht zuletzt deshalb, weil die Frau im realen Leben immer in den sozialen und familiären Kontext eingebettet ist. Beim Mann spielt dies auch insofern keine so große Rolle, als dass der Mann im standardisierten Porno in erster Linie über seinen Penis dargestellt wird. Im Fokus steht die Frau. Ein Diskurs, der sich mannigfach in tradierten Mustern zur richtigen Erziehung von Mädchen wiederfindet, die, wie schon Hildegard von Bingen ermahnt, ohne strenge Erziehung unkeusch würden. Dies ist nur eines der vielen Paradoxe, die im Zuge der Verbreitung von Pornographie zutage treten und diskutiert werden (müssten).

Daneben gibt es immer wieder Fälle von Diskriminierung der unteren Klassen, die mitunter auch als rassistisch wahrgenommen wird. So verbot die australische Regierung erst 2007 im Northern Territory vorübergehend den Verkauf von Pornoheften an Aborigines, die am unteren Ende der sozialen Skala stehen. Die Regierung Howard begründete ihr Gesetz mit dem Schutz der Kinder. Lewandowski beschreibt derlei Sorgen der bürgerlichen Eliten als Moralpanik. Mit wachsender Unruhe würde beobachtet, wie bestimmte Bevölkerungsgruppen unkontrollierten Zugang zur Pornographie erhielten, mit der sie – so der Einwand – nicht umgehen könnten.

Porno-Konusment_innen wird also von verschiedenster Seite (Bürgertum, Klerus, Por-No-Feminismus) nicht zugebilligt, die Realität vom Schauplatz des Pornografischen unterscheiden zu können. Sexualwissenschaftler halten dieser Moralpanik entgegen, dass der Mensch als mündiger Bürger mit diesen Bildern und Bewegtbildern umgehen könne. Das politische Tier, wie Aristoteles den Menschen schon nannte, könne abwägen und zwischen Fiktion und Realität scharf trennen. Andernfalls wären wir bei den ganzen gewalttätigen und zweifelhaften Inhalten, die im Internet kursieren, empirisch betrachtet wahrscheinlich längst kollektiv traumatisiert und würden die Folgen längst spüren. Das ist aber nicht der Fall. Ergo – so die Botschaft – werden wir damit fertig.

Die wirksamste Blockade des menschlichen Sexualantriebs ist bekanntermaßen unser Sinn für Religion, deren Aufgabe unter anderem darin gesehen wird, dafür zu sorgen, dass er nicht außer Kontrolle gerät. Der weltweite Konsum von Pornographie und die Annahme mangelnden Urteilsvermögens der Konsument_innen führt dazu, dass die karnevaleske Maske der Pornografie, hinter der das omnipräsente Thematisieren von Sex befürchtet wird, immer wieder zum Gegenstand politischer und religiöser Auseinandersetzungen wird. Bereits in der Zwischenkriegszeit entfaltet der Psychoanalytiker Wilhelm Reich die Theorie, dass Sexualität von Anfang an in Religion eingebettet wird, zum Zwecke der sozialen Kontrolle des Individuums.

Doch in einer Zeit der weltweiten Verbreitung von Pornographie im Web lässt sich der Diskurs über Sexualität nicht mehr so klar von Institutionen steuern, sondern führt zu vernetzten Diskursen, etwa über Fremd- und  Selbstbestimmung des Körpers oder seiner Befindlichkeiten, die sich wiederum diskursiv verselbständigen. Und dies nicht nur im Abendland.

Salto in Zusammenarbeit mit: Kulturelemente

Demnächst:
Teil 2: Pornotopia – Die entschleierte Lust 
Teil 3: Pornotopia – Normativität und Neue Ufer