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Warum bist du nicht da?

Što te nema – Warum bist du fort? Diese Frage zeichnet heute noch das Leben der Mütter, Frauen, Töchter und sonst all jener, deren Liebste aus ihren Leben gerissen wurden
bekir halilović
Foto: Bekir Halilović

Srebrenica im Juli vor genau 25 Jahren. Der Bosnienkrieg ist seit über drei Jahren im Gange und wird am Ende mehr als 100.000 Todesopfer, Zehntausende Vergewaltigte Frauen, unzählige Verletzte, mehrere Millionen Vertriebene fordern. Im einst idyllischen Kur-Städtchen – längst eine von den Serbisch-Bosnischen Kräften belagerte Stadt voller Elend, Hunger und Angst – haben zahlreiche muslimische Familien Zuflucht gefunden, wenige Hunderte Holländische UN-Blauhelmsoldaten soll ihnen hier Schutz bieten. Doch an einem heißen Julitag brechen Ratko Mladićs Truppen in die Stadt ein, die Holländer ziehen sich kampflos in ihre Basis zurück und verweigern den Tausenden, in Panik um Hilfe flehenden Menschen den Zutritt. General Mladić hatte bereits in den Jahren zuvor den Auftrag des Präsidenten der Serbisch-Bosnischen Teilrepublik und Kriegsverbrechers Radovan Karadzić  angenommen, es den „Türken“ heimzuzahlen. Zum Verständnis: Die Osmanen hatten im 14.Jahrhundert am Balkan über die Serben gesiegt, in den folgenden Jahrhunderten konvertierten Teile der Bevölkerung hier zum muslimischen Glauben.


Der Aufruf zum Genozid wird ab dem 11. Juli in wenigen Tagen brutal in die Tat umgesetzt. Kurz nachdem der General vor laufenden Fernsehkameras den Menschen zuruft, sie hätten nichts zu befürchten, beginnt die gezielte und grausame Ermordung von über 8.000, großteils unbewaffneten Jungen und Männern auf deren Flucht.

Rund 6.000 von ihnen haben im Laufe des vergangen Vierteljahrhunderts in Potoćari ihre letzte Ruhestätte gefunden, direkt gegenüber der Fabrikhalle, die den Blauhelmen als Basis gedient hatte. Weiße Grabsteine so weit das Auge reicht. Jedes Jahr kommen einige hinzu, wenn die Angehörigen der Vermissten entscheiden, die oft wenigen gefunden Knochen beerdigen und mit dem schrecklichen Verlust abschließen zu wollen. Denn zu Kriegsende wurden, im Versuch die erfolgten Gräueltaten zu vertuschen, mit schwerem Gerät die Massengräber ausgehoben und die Körper anderswo versteckt. Häufig gelangten Körperteile eines Menschen dabei an verschiedene Orte und die Suche nach ihnen dauert zum Teil bis heute an.


Muhamed Avdic war während des Krieges ein Kind und sein Vater Direktor der Schule des Weilers Osmaće, auf einem der Hügel hinter Srebrenica. Wie überall in Jugoslawien, gingen hier Kinder aller ethnischen Gruppen oder „Nationen“ wie Geschwister gemeinsam zur Schule. Bis der Konflikt ausbrach und plötzlich deren Väter aufeinander schießen sollten. Muhamed sah seinen Vater ein letztes Mal als dieser aufbrach, um vor den einfallenden Truppen zu fliehen. Über den nahe gelegenen Grenzfluss, die zu Friedenszeiten äußerst romantisch anmutende Drina, schlug er sich nach Serbien durch, in der Hoffnung hier der „ethnischen Säuberung“ zu entkommen. Serbien war offiziell nicht am Kriegsgeschehen in Bosnien beteiligt, doch die Serbische Polizei fing den Mann auf und händigte ihn dennoch den Serbisch-Bosnischen Kollegen im Nachbarland aus. Seitdem fehlt von ihm jede Spur.


Muhamed, inzwischen ein Mann, nimmt wie jedes Jahr auch am heutigen 11. Juli an den Gedenkfeiern und Beerdigungen in Potočari teil. Zum 25 jährigen Gedenken hatten sich heuer eigentlich Zehntausende Teilnehmer aus der Region und aus aller Welt angemeldet. Dann kam die Corona-Pandemie und genau jetzt schnellt die Infektionskurve in Bosnien täglich erschreckend weiter in die Höhe. Muhamed lässt es sich wie viele andere trotzdem nicht nehmen, der Toten und Vermissten zu gedenken. Er gibt die Hoffnung nicht auf, eines Tages das Schicksal seines Vaters zu erfahren, ihn zu Grabe tragen zu können und die Verantwortlichen vor Gericht zu sehen.


Doch hier in der Serbisch-Bosnischen Teilrepublik wird diese Art von Hoffnung für die Angehörigen der Vermissten vom stetig hemmungsloseren Nationalismus immer mehr gedämpft. Nicht nur in Srebrenica fühlt sich das an, wie ein Leben auf dem Pulverfass. Überlebende wohnen wortwörtlich Tür an Tür mit denjenen Verbrechern, die bis heute nicht zur Rechenschaft gezogen werden konnten oder inzwischen wieder frei sind. Der Bürgermeister der Stadt leugnet offen, dass es hier einen Genozid gegeben habe, den Tausenden Gräbern zum Trotz. Und heute, ein Vierteljahrhundert später, kann man mit derartigen Provokationen oder mit Plakaten, auf denen Kriegsverbrecher zu Helden stilisiert werden, wieder Wahlen gewinnen. Übrigens auch im Nachbarstaat Serbien, einem Anwärter auf die EU-Mitgliedschaft.