(Fast) Alltägliches

… als ich vom Brunecker Autobahnhof hörte, war ich ernsthaft irritiert. Hier sollte uns der Bus des Alpenvereins aufgabeln. Zwar kein ungewöhnlicher Treffpunkt für eine Exkursion, aber: Bruneck und Autobahn? Hatte ich was verpasst und wie sollte ich da mit dem Fahrrad hinkommen? Ich dachte an so etwas wie einen Autobahnrasthof, d. h. an einen an einer Autobahn gelegenen Restaurationsbetrieb mit Tankmöglichkeit. In Bruneck gibt es zwar vieles (manche sagen sogar „alles“), aber die Brennerautobahn ist nun doch zum Gluck ein ganzes Stück weit weg. Wie froh war ich dann über die hilfreiche Erklärung einer netten Dame im Alpenvereinsbüro, die mir erläuterte, dass es sich eben nicht um einen Autobahn-Hof, sondern um einen Auto-Bahnhof (nicht weit vom Bahn-Bahnhof ) handelt, auf dem ich allerdings bisher nur Fahrräder und Busse gesehen habe.
Verwirrung
① Marmarole ≠ Marmolata
Marmarole, Name einer Berggruppe in den Dolomiten, südöstlich von Cortina und südlich der Sextner Dolomiten.
Marmolata, höchster Berg der Dolomiten; westöstlich verlaufender Gratrücken mit der Punta Penia (3343 m u. d. M.).
➔ Die Marmarole kann man durchqueren, die Marmolata überschreitet man. Für die Marmarole benötigt man gute Kondition, Trittsicherheit, Schwindelfreiheit. Für die Marmolata benötigt man noch einiges mehr, u. a. eine Gletscher- bzw. Klettersteigausrüstung.
Wenn man auf der Marmarole unterwegs ist und in Bergnot kommt, ist es doof, wenn man auf der Marmolata gesucht wird.
② Sambuca ≠ Sambuco
Sambuca, farblos-klarer Anislikor mit 38 – 42 Vol.-%.
Sambuco, 1. Holunder bzw. in italienischen Gaststatten Bezeichnung für eine Holunderschorle; 2. eine Gemeinde mit 100 Einwohnern im Piemont.
➔ Wenn man mittags auf einer Wandertour in den Dolomiten „una sambuca grande“ bestellt, stutzt der Kellner kurz und bringt dann ein großes Glas Holunderschorle. Offensichtlich scheint eine deutsche Touristin mittleren Alters nicht in die Kategorie „Säuferin“ zu fallen.
③ Gitsche ≠ Kotz
Gitsche, Südtirolerisch für „Mädchen“.
Kotz, 1. Südtirolerisch für „nettes Mädchen“, „Katze“; 2. Im Hochdeutschen Imperativ des umgangssprachlichen Verbs „kotzen“, d. h. „sich erbrechen, speien“; auch auf unangenehme Situationen und Personen zu beziehen.
➔ In Südtirol ist es von Vorteil, ziemlich schnell den regionalen Dialekt zu erlernen. Als Zugezogene sollte man schließlich wissen, ob man als „Mädchen“, als „nettes Mädchen“ oder als „übelriechendes, unangenehmes Etwas“ bezeichnet wird. Je nach gewählter, gemeinter und verstandener Variante ist der weitere Gesprächsverlauf in der Regel sehr unterschiedlich.
Symmetrie der Großstadt
Immer wenn die Flugzeuge parallel zu den Dächern der neuen EZB fliegen, stimmt die Symmetrie der Großstadt.
Auf dem Dach
Eine Taube fliegt zwischen zwei Schornsteinen spazieren. Sie würdigt mich keines Blickes, dabei ist sie doch mein Alles an diesem Frühlingsabend. Immer wenn ich ihr zuzwitscher’, zuckt sie mit dem Köpflein und guckt Löcher in die Skyline. Ich gucke zur Taube und frage mich, wann sie mich endlich erhören wird.
Der Pekinese
Der Pekinese klemmt unter dem Arm der dicken, grauen Frau, die mit wackeligem Schritt bei Rot die Straße überquert. Ich bin überrascht, wie wenig mich ihr Kommentar „Ihr scheiß Radfahrer“ trifft. Der Pekinese bellt und sie verpufft in der Luft.
Gedanken eines Vaters
Wenn alle Menschen Veganer wären und keine Kinder mehr bekämen, lebten schon in hundert Jahren auf der Welt nur noch Tiere.
Zusammenhang
Immer wenn er eine traurige Geschichte geschrieben hat, spielt er anschließend einen Boogie-Woogie am Klavier. Das will das Universum so, manchmal auch seine Eltern.
Instant love
Er hat Schuhe gekauft. Neonrosa. Sie muss sie bestaunen. Sie sitzt auf einer Gartenliege, er kommt gerade aus der Stadt, setzt sich auf den Boden. Er liebt sie, sie liebt ihn. Sie reden über die Einzigartigkeit der neonfarbenen Schuhe und schauen sich durch Sonnenbrillen in die Augen.
Festhalten
Ich würde gerne so genau wie Siegfried Lenz beobachten können. Dann würde ich von deinem rosa Leinenhemd erzählen mit den feinen weißen Streifen darin, davon, wie du mit einem schon fast stumpfen Bleistift in altdeutscher Schrift an deine Mutter schreibst. Buchstabe für Buchstabe. Dein konzentrierter Blick auf den Zeilen, die Bartstoppeln, die sich seit Mittwoch angesammelt haben und die Länge unseres bisherigen Urlaubs kennzeichnen. Wir sitzen uns gegenüber. Neben dir liegen in grünem Umschlag über tausend Seiten des „Manns ohne Eigenschaften“, den du mit bewundernswerter Hartnäckigkeit in Tagesrationen liest – auch wenn es darüber viel zu dunkel wird.
Waren (Müritz)
In der Ferienwohnung an der Müritz hängen eine toskanische Landschaft und Imitationen venezianischer Masken. Draußen bauschen sich die Wolken zu schwarzen Ungeheuern auf. Eine Böe lässt die Stehtische und Sektgläser der auf dem gegenüberliegenden Kirchplatz feiernden Hochzeitsgesellschaft gefährlich wackeln. Wir haben uns gegen Italien entschieden und preisen nun die Beschaulichkeit dieses Ortes, die uns das Gefühl gibt, nichts zu verpassen, wenn wir einen kompletten Tag lesend und schlafend unter der toskanischen Landschaft liegen.
Aus dem Leben
Frau Schneider war eine sympathische, fröhliche Frau, die jeder gern hatte. Sie grüßte selbst an Regentagen wie der strahlende Sonnenschein, sodass jeder nach einer Begegnung mit ihr entschlossen war, die Welt ein Stückchen besser zu machen. Eines Tages bekam sie einen Mann und drei Kinder. Zu geben lag in ihrem Naturell und so wurde sie – ohne es zu merken – die perfekte Hausfrau und Mutter. Ihr Leben bestand aus Kochen, Putzen, Aufräumen und dem Erledigen von diversen Fahrdiensten für die inzwischen jugendlichen Kinder. An einem Donnerstagmorgen stellte sie erschrocken fest, dass sie die alte Frau Schneider vermisste, und verließ das Haus.
Lukas
Mein Name ist Lukas und meine Freunde sagen, ich müsse in Therapie. Sie sagen, ich nähme mich zu wichtig, die Gemeinschaft sei doch alles, nur im Miteinander könne man überhaupt überleben. Man müsse fleißig sein und sich an Regeln halten. Wenn jeder täte, wonach ihm der Sinn steht, wo kämen wir denn da hin? Ich mag meine Freunde, aber ich verstehe einfach nicht, wie ihnen dieser Wald genügt. Ja, es ist schön hier. Ja, wir leben in einem phänomenal großen Hügel. Ja, hier gibt es Arbeit. Aber wofür hat uns Gott sechs Beine geschenkt? Die Welt ist doch so groß …
Aus: endet denn der winter nie?
N.C. Kaser zum 70. Geburtstag
Wortstiche Südtiroler Autorinnen und Autoren
Mit Beiträgen von: Eeva Aichner, Rut Bernardi, Toni Bernhart, Arno Dejaco, Margit von Elzenbaum, Pepi Feichtinger, Klaus Gasperi, Maria C. Hilber, Elfriede Kehrer, Kurt Lanthaler, Martha Lanz, Selma Mahlknecht, Louis Marley Crowfoot Schropp, Lene Morgenstern, Armin Mutschlechner, Wolfgang Nöckler, Klothilde Oberarzbacher Egger, Daniel Oberegger, Josef Oberhollenzer, Lissy Pernthaler, Anne Marie Pircher, Josef Rainer, Ina Maria Simon, Ursula Steinkasserer, Gerd Sulzenbacher, Matthias Vieider, Stefan Walder, Hermann Winkler, Stefano Zangrando, Jörg Zemmler
Edition Raetia