Gesellschaft | INTERVIEW

Post-Corona

Die Pandemie hat uns fest im Griff. Was erwartet uns danach? Der Trend- und Zukunftsforscher Tristan Horx wirft einen Blick in die Zukunft.
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Foto: Tristan Horx

Tristan Horx arbeitet als Trend- und Zukunftsforscher am Zukunftsinstitut mit Sitz in Wien und Frankfurt. Das Institut hat ein Modell erarbeitet, das vier mögliche Szenarien zeigt, die nach der Pandemie eintreten könnten: System Crash (Permanenter Krisenmodus), Totale Isolation (alle gegen alle), Neo-Tribes (Rückzug ins Private) und Adaption (die resiliente Gesellschaft). Basierend auf das optimistischste dieser Modelle, der Adaption (lat. „adaptare“ – anpassen), werfen wir einen Blick auf potentiell kommende Zeiten.

salto.bz: Die Bevölkerung in Südtirol befindet sich nun seit ungefähr sechs Wochen in Quarantäne. Haben sich im Verlauf der Wochen Ihre Beobachtungen verändert? 

Tristan Horx: Wir haben uns die Frage gestellt, ob diese Euphorie und der Zusammenhalt in der Bevölkerung, die in vielen Ländern eingetreten sind, über einen längeren Zeitraum anhalten. Italien ist eines der am härtesten getroffenen Länder und muss deswegen etwas differenzierter vom Rest Europas betrachtet werden. Dennoch würde ich sagen, die Zivilgesellschaft hält großteils noch zusammen, Politiker hören bis dato auf Experten und Rechtspopulisten haben noch immer keine sinnvolle Antwort auf die Krise gefunden. Gerade in Italien ist es aus anthropologischer Sicht spannend zu beobachten, wie lange eine Zivilgesellschaft eigentlich durchhalten kann? (Anm.d.Red.: Das Gespräch wurde am Freitag, 10. April geführt)

Wie lange kann eine Zivilgesellschaft eigentlich durchhalten?

Die Krise hat uns vor Augen geführt, welche Berufe systemrelevant sind. Sind die Helden von heute auch noch die Helden von morgen?

Das Schöne an den Helden der Krise ist, dass sie vor der Krise still waren und in der Krise immer noch stillschweigend arbeiten, aber von allen anderen als Helden gefeiert werden. In erster Linie wird eine Ausfilterung der Berufe stattfinden. Man wird sich überlegen, welche Berufe ohne großes Risiko digitalisierbar sind. Zum Beispiel hat man jahrelang den Beruf des Kassierers tot gesagt. Auf menschlicher Ebene sind wir gerade jetzt froh, dass die Leute, die in Lebensmittelgeschäften arbeiten, da sind. (Andererseits, wenn das Einkaufen kontaktlos ablaufen würde, wäre das, medizinisch gesehen, momentan wohl besser.) Was uns dieser Gedankengang aber zeigt, ist, dass wir die Berufe, die auf menschliches Kapital setzen, wie auch Berufe im Pflege- und Gesundheitsbereich, aufwerten sollen, auch finanziell. Es ist daher allerhöchste Zeit, die Entlohnung der Berufe neu zu verhandeln. Ferner werden Experten in Zukunft eine bedeutendere Rolle einnehmen als vor der Krise.

Man muss versuchen resilientere Systeme zu schaffen, die nicht nur ausschließlich von Wachstum abhängig sind.

Was bedeutet die Krise für die Weltwirtschaft?

Betrachtet man die Krise aus einer globalwirtschaftlichen Perspektive, dann ist es bereits akzeptiert worden, dass die Wirtschaft alle 10 Jahre „crasht“. Man muss deshalb versuchen resilientere Systeme zu schaffen, die nicht nur ausschließlich von Wachstum abhängig sind. Denn geht man von einem jährlichen Wirtschaftswachstum von 3 Prozent aus, müsste sich die Weltwirtschaft ungefähr alle 25 Jahre verdoppeln. Das geht sich nicht ewig aus. Bereits vor der Corona-Krise gab es Überlegungen zu Postwachstumsmodellen. Konzepte wie z.B. die Kreislaufwirtschaft oder das bedingungslose Grundeinkommen stellen Alternativen dar. 

Welche Auswirkung hat die Pandemie auf Unternehmen?

Es wird eine Auslese stattfinden. Unternehmen, die seit 50 Jahren auf dem Markt bestehen, keinen Back-Up Plan haben, sich ständig nur Profite auszahlen und nicht wandlungsfähig sind, werden jetzt zerbröseln. Zu den Gewinnern der Krise zählen sicher anpassungsfähige Unternehmen. Am Ende des Umsatzes beginnt die Innovation und das gilt jetzt gezwungenermaßen für alle. Wenn man als Unternehmen sein Business neu erfinden muss, dann ist jetzt der ideale Zeitpunkt da. Insofern haben auch hier die KMUs und Einzelunternehmer Potenzial – sie sind agiler. 

Die Pandemie hat zur Beschleunigung der Entschleunigung beigetragen.

Der Tourismus steht still. Ist die Krise das Ende des ständigen Strebens nach „Mehr“?

Bereits vor der Krise haben sich Bewegungen zu „Slow Travel“ angedeutet. Die Pandemie hat zur Beschleunigung der Entschleunigung beigetragen. Die Menschen werden sich mehr Zeit nehmen um bewusst mit Natur, Kultur, Menschen vor Ort in Kontakt zu treten und Erfahrungen zu sammeln. Im Großteil gab es diesen Austausch nicht mehr; Konsumurlaub und „Stop-Go-Hopping“ standen auf dem Reiseplan. In Zukunft ist es gut vorstellbar, dass lokaler Tourismus einen Aufwind erlebt, Tagestourismus in der bisherigen Form nicht mehr existiert und das Ende des Preiskampfes nach unten eingeleitet wird.

Was macht das mit der Branche?

Es wird zweifelsohne Hotels und Touristiker geben, die die Krise nicht überstehen – eine Rückkehr zum Vor-Corona Geschäft ist kaum mehr möglich. Wir sprechen ja von einer Krise. Aber die Frage ist vielmehr: Lernt man daraus, gelingt ein nachhaltigeres Tourismusbild oder war das ganze Leiden der Krise umsonst, weil wir genau so weiter machen wie davor?

Auch Geschäftsreisen haben die Reisebranche geprägt. Videokonferenzen gehören nun zum Alltag. Geschäftsreisen, in der Form wie wir sie kennen, sind die noch notwendig?

Prioritäten werden neu gesetzt werden: Muss ich vor Ort sein oder reicht ein längeres Skype-Meeting? Das wird die Menge der Reisen wesentlich reduzieren und somit einen positiven Einfluss auf die Umwelt haben. Gleichzeitig haben wir nun auch die Chance darüber nachzudenken, ob man im Sinne der Umwelt bestimmte Flugrouten, wie Mailand-Rom, überhaupt wieder einführt oder es beim Schienenverkehr belässt? Flugzeuge und Züge haben auch einen „viralen“ Aspekt – viele Menschen auf engem Raum – und dahingehend wird es neue Protokolle geben. Aber diese Herausforderung müssen wir annehmen und letztendlich werden wir sie überwinden.

Stichwort Umwelt. Es scheint, als könne die Umwelt erstmals seit Langem wieder richtig durchatmen.

Es gibt neue Sinnbilder, die die Gesundheit der Erde verkörpern: der Smog verschwindet aus Metropolen, Tiere erobern Lebensräume zurück, Delfine werden in Häfen gesichtet. Das alles zeigt, was allein durch soziale Intelligenz und etwas Verzicht möglich ist, ganz ohne technologische Innovationen. Was können wir längerfristig daraus lernen? Zielführend wird eine Mischung aus technologischer Innovation und Verhaltensveränderung sein. 

Inwiefern wird sich unser Konsumverhalten verändern?

Viele Menschen haben gedacht, ohne „das und jenes“ kann ich nicht leben. Wir machen jetzt aber eine neue Erfahrung: Es wird weder unnötig konsumiert noch erlebe ich – und, siehe da, wir leben noch immer. Wir werden nach der Pandemie nicht in absoluter Askese leben, aber wir werden uns neue Fragen stellen und bewusster konsumieren. 

Wir bewegen uns in ein „glokales“ Zeitalter, einer Mischform aus Globalisierung und Lokalisierung.

Bedeutet die Pandemie das Ende der Globalisierung und den Beginn der Lokalisierung?

Weder noch, wir bewegen uns in ein „glokales“ Zeitalter, einer Mischform aus Globalisierung und Lokalisierung. Es ist kein Widerspruch mehr, lokalisiert und Kosmopolit zu sein. Die Überhitzung der Globalisierung und die zu hohen Abhängigkeiten bedeuten nicht, dass wir alle zu Nationalisten werden. Vielmehr werden wir wieder Zwischenlager einrichten und die Wirtschaftsregionen werden mehr Kontrolle über die eigenen Systeme wahren wollen. Wir werden aber lernen, dass fast alle Krisen der Zukunft global sind und allein nationalstaatlich nicht zu stoppen sind. Aber da eine Überhitzung der Globalisierung stattgefunden hat, ist sicher momentan die Suche nach Qualität im Regionalen größer als Quantität im Globalen.

Europa hat also nicht versagt?

Flüchtlingskrise und Corona-Krise, ich bin überzeugt, dass es mehr Europa braucht, als weniger. Während es momentan viele Kritiker gibt, die Europa versagen sehen, finde ich, dass die EU als Wirtschaftsunion gerade alles macht, was möglich ist. Der Warenverkehr funktioniert innerhalb der EU noch sehr gut. Europa muss aber mehr sein, als eine Wirtschaftsunion. Das gilt es jetzt umzusetzen. Wenngleich wohl ein Europa 2.0 erschaffen werden muss, um den Zuspruch der Gesellschaft wieder zu gewinnen, sollten wir uns auch daran erinnern, dass Europa der Grund ist, wieso nunmehr 70 Jahren Frieden herrscht. Zusätzlich brauchen wir die EU als starke Stimme der Weltpolitik sowie als Mitkämpfer in der Klimadebatte. 

Physisch sind wir gerade alle getrennt, aber seelisch sind wir uns sehr nahe. 

Zur Zeit spielt sich unser Leben in den eigenen vier Wänden ab. Bleibt auch nach der Krise der Trend zu mehr Rückzug ins Private bestehen?

Alle Statistiken sagen, dass das was die Menschen am meisten vermissen, sind die Freunde und das soziale Umfeld. Physisch sind wir gerade alle getrennt, aber seelisch sind wir uns sehr nahe. Zur Zeit bringen einem 5000 Facebook Freunde gar nichts, wir besinnen uns auf das enge Freundesnetzwerk zurück. Plötzlich ruft man wieder alte Freunde an und fragt wie es geht – wie lange ist das vorher nicht mehr passiert? Wir merken, wie wichtig non-verbale Kommunikation ist und wie sehr wir das Zwischenmenschliche vermissen. Nach der Krise werden wir so überdigitalisiert sein, dass es diese ewige „Smartphone-Rumhängerei“ beim Treffen mit Freunden nicht mehr geben wird – oder zumindest sozial sanktioniert wird. 

Der Staat ist gerade als Kontrollinstanz so präsent wie selten zuvor. Was soll man davon halten?

Das ist einer der Punkte, die ich mit Pessimismus betrachte. Sicherheitspolitisch ist die Zivilgesellschaft zur Zeit gefordert, viele Maßnahmen als nötig und korrekt zu akzeptieren. Die Zustimmungsraten in der Bevölkerung sind relativ hoch. Weil aber der Ausnahmezustand so lange anhält, werden viele Maßnahmen zur Norm und es ist immer schwierig von einer Norm in die frühere Lebensweise zurückzukehren. Falls der Staat danach überwachungsstaatliche Maßnahmen einführen will, ist es die Aufgabe der Zivilgesellschaft sich zusammenzuschließen und sich dagegen zu wehren.

Fallen in die Sparte Überwachung auch die medial diskutierten Gesundheit-Apps?

Das kann man so nicht sagen. An sich ist Informationssammlung nichts Schlechtes. Wir verknüpfen es nur negativ, weil z.B. Mark Zuckerberg (und Co.) die Daten ausschließlich dazu verwendet hat, um uns zu mehr Konsum und Verbrauch zu bewegen. Datengenerierung ist wegweisend für die Zukunft. Die Frage ist nur: Wer macht es, wie wird es gemacht und ist es profitgetrieben?

Selten war der Satz „Wir sitzen alle in einem Boot“ so treffend.

Zur Zeit werden sehr viele Menschen von Existenzängsten geplagt. Was kann ihnen Mut machen?

Es ist eine Tiefenkrise, das kann man nicht schön reden. Am Ende ist die Menschheit aber noch durch jede Krise gewachsen. Viel hat damit zu tun, dass die Menschen Angst haben, das ist völlig normal. Angst ist evolutionär dazu da, sich zu mobilisieren und nicht starr zu bleiben. Wir müssen probieren, Angst in produktive Energie umzuwandeln und danach diejenigen unterstützen, die es von allein nicht schaffen sich zu mobilisieren. Die Corona-Krise ist nicht nur eine Top-Down-Krise, sondern vielmehr eine Bottom-Up-Krise. Alle anderen Krisen, die Bankenkrise und 9/11, waren sehr abstrakt, von unserem Alltag weit entfernt und wir waren ohnmächtig etwas dagegen zu unternehmen. Noch nie war eine Krise, wie es die derzeitige ist, für alle so greifbar, noch nie hatte das Individuum so viel Handlungsmacht. Selten war der Satz „Wir sitzen alle in einem Boot“ so treffend.

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gorgias

>Bereits vor der Krise haben sich Bewegungen zu „Slow Travel“ angedeutet. Die Pandemie hat zur Beschleunigung der Entschleunigung beigetragen. Die Menschen werden sich mehr Zeit nehmen um bewusst mit Natur, Kultur, Menschen vor Ort in Kontakt zu treten und Erfahrungen zu sammeln.<

Ob da die Südtiroler Bauwut nicht ein bischen kontraproduktiv sein könnte?

Di., 14.04.2020 - 08:40 Permalink

Die Aussagen dieses Zukunft-Profis erscheinen mal banal, zum x-ten bereits Gehörtes repetierend, mal schlichtweg falsch ("Die Pandemie hat zur Beschleunigung der Entschleunigung beigetragen" - wohl nur jener in den Gedanken einiger Idealisten, alle Passagier- und Nächtigungszahlen sowie Investitionen belegen das Gegenteil, nämlich jährlich neue Rekorde), mal haaresträubend (angesichts des größten Wirtschaftseinbruchs seit einem Jh. mit noch unabsehbaren Folgen von "etwas Verzicht" zu sprechen, als ob jetzt das Hauptproblem unsere Bedürfnisbefriedigung wäre), mal von mangelndem Verständnis für dynamische Entwicklungen geprägt (die Anerkennung der derzeit wichtigen Berufsgruppen könnte in der ausnahmsweisen Beibehaltung ihres realen Gehaltsniveaus bei allgemein sinkenden Reallöhnen bestehen), mal spekulativ ("Nach der Krise werden wir so überdigitalisiert sein, dass es diese ewige „Smartphone-Rumhängerei“ beim Treffen mit Freunden nicht mehr geben wird" - wetten, 12 Monate nach Normalisierung ist alles wieder beim Alten?).

Di., 14.04.2020 - 12:52 Permalink

Stimme Herrn Daniel zu. Zumal hier ganze Volkswirtschaften heruntergefahren wurden, von einer "Beschleunigung der Entschleunigung" zu sprechen erscheint mir angesichts der wirtschaftlichen Katastrophe doch etwas abwegig. Auch kann ich den "etwas Verzicht" hier nicht erkennen, angesichts der Tatsache dass die Maßnahmen mit Grundrechtseinschränkungen einhergehen. Die Thesen des Zukunft-Profis erscheinen mir daher nicht schlüssig.

Fr., 17.04.2020 - 15:57 Permalink

Es ist aber schon begreifbar, dass ohne "Herunterfahren" die wirtschaftliche Katastrophe noch wesentlich größer ausgefallen wäre, und die "Grundrechtseinschränkugen" (wie Sie die zeitweiligen Schutzmaßnahmen nennen) ebenso wesentlich massiver gewesen wären, bis in manchen Gegenden gar hin zu Hunger und Durst?

Fr., 17.04.2020 - 16:10 Permalink

Davide Brocchi, Dipl.-Sozialwissenschaftler und Publizist, freiberuflich tätig, sowie wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim hat sich ebenfalls mit dem Thema " Corona als Chance" beschäftigt, er meint "Dieses Mal sollten die Milliarden ins Gemeinwesen fließen, denn vor allem das macht unsere Gesellschaft krisenresistenter – und dient allen Menschen gleichermaßen"
Er hat uns freundlicherweise einen Text zur Verfügung gestellt, den wir als lab:bz_Stadtlabor Bozen hier gerne zur Diskussion anbieten möchten:
http://www.labbz.it/2020/04/17/ursachen-nicht-als-losung-verpacken/

Fr., 17.04.2020 - 15:47 Permalink
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Marcus A.

"Zukunftsforschung"......
bitte hören wir mit diesem Schwachsinn auf.
Zukunft kann nicht "erforscht" werden, die Vielzahl von möglichen Variablen machen dies schlicht unmöglich.
Wenn nicht einmal seriöse Wissenschaftler wie Virologen imstande waren die Entwicklung des Virus korrekt vorherzusehen, wie kann man sich dann anmaßen die Zukunft "erforschen" zu können?
Die Zukunft mit dem Begriff "Forschung" in Verbindung zu bringen ist schlichtweg lächerlich.
Dagegen sind sogar Wirtschaftswissenschaften, Psychologie usw. "seriöse" Wissenschaften

Sa., 18.04.2020 - 15:47 Permalink