Die entschleierte Lust
Im ersten Teil meines Beitrags zum massenmedialen Phänomen der Online-Pornografie rückten zwei Fragen in den Mittelpunkt der Überlegungen: erstens die Diskrepanz zwischen ökonomischer Bedeutung und öffentlicher Wahrnehmung der Branche; zweitens die Frage nach der Mündigkeit bzw. Fähigkeit des Menschen, mit pornografischen Bildern und Bewegtbildern angemessen umzugehen. 2017 fanden sich nicht wenige interessante Beiträge zum Thema in der Presse, bisweilen auch in Zusammenhang mit der Sexualmoral im Islam. Um zu sehen, was sich in muslimischen Gesellschaften tut, gilt es, zunächst das Abendland und mit ihm bequeme Vorstellungen zu verlassen.
In ihrer vielbeachteten empirischen und sehr persönlichen Bestandsaufnahme Sex and the Citadel (Shereen El-Feki: Sex and the Citadel, über Sexualität und das Sprechen über Sexualität in arabischen Ländern.) kommt die ägyptische Immunologin und Journalistin Shereen El-Feki zum Schluss, dass sich die Sexualmoral – in der arabischen Welt und vielleicht auch global – trotz aller Widerstände wandelt. Ob der weltweit steigende Pornokonsum einen nennenswerten oder positiv zu besetzenden Einfluss auf die Entwicklung der sexuellen Praxis von Menschen ausübt, die mit wenigen über Sex sprechen können, ist jedoch umstritten oder zumindest schwer belegbar. El-Feki wurde sogleich von der europäischen Presse bejubelt, und plötzlich tauchten in den Printmedien verschiedenste spannende Beiträge zur Sexualmoral im Islam auf, einem Sujet, das hierzulande relativ unbekannt ist. Diese durchaus kritischen Essays sind von Experten, Theologen und Islamwissenschaftlern verfasst und vermitteln so den Eindruck von Authentizität und fundiertem Wissen. So schreibt etwa Ali Ghandourin vom Zentrum für Islamische Theologie an der Universität Münster in der ZEIT über das muslimische Kamasutra, Sinnlichkeit und Homoerotik in der Vergangenheit. Hasnain Kazim reflektiert im Spiegel über hausgemachte Schwierigkeiten im Umgang mit dem Thema Sex. Nicht aus islamischer, sondern aus weiblicher Perpektive porträtiert Journalistin Judith E. Innerhofer in der ZEIT die in Teheran geborene und in Wien lebende Feministin und Pornoregisseurin Adrineh Simonian. Ein Interview mit der italienischen Porno-Regisseurin Monica Strambelli auf deutsch findet sich in der aktuellen Ausgabe der Kulturelemente 132.
Wer ist Burka?
Ob diese Erklärungs- und Aufarbeitungsversuche zur Verbesserung der aktuellen Probleme oder zur Lösung der aktuellen Aporien zwischen der sogenannten „westlichen Lebensweise“ – die durch diesen Terminus irritierenderweise als homogene Konzeption interpretiert wird – und muslimisch geprägten Lebensentwürfen, auch jenen von gemäßigten Muslimen, beiträgt, darf allerdings bezweifelt werden. Zwar verweisen die Essays mehrheitlich darauf, dass es in der arabischen Welt dereinst viel freizügiger zuging und nicht so verklemmt wie heute. Allein, was bringt dieser Erkenntnisgewinn zur Lösung der Probleme von heute? Schuld an der allgemeinen Verklemmtheit – hierin sind sich alle Autoren, inklusive Shereen El-Feki, einig – sind nicht zuletzt die Kolonialmächte: aktiv (durch puritanischen Unterricht), und passiv (durch die Entstehung etwa der Muslimbruderschaft als Reaktion auf die Kolonialisierung). Auch die Idee, eine neue Minimaldefinition von Leitkultur zu entwerfen [die, wie jüngst in Deutschland, weniger programmatisch, als vielmehr ungrammatisch daherkommt: „Wir sind nicht Burka“] wird die Probleme nicht lösen.
Aufklärung durch Pornographie scheint wie immer ein schlechter Ratgeber. Einige der islamischen Staaten, allen voran der Iran und Pakistan, schreiten in der Tat gegen die Pornografie zu Felde. Ihre Maßnahmen werden bisweilen als Augenauswischerei bezeichnet, de facto wurden aber bereits Menschen dafür hingerichtet. Ernster kann die Lage nicht sein, denn die physische Auslöschung ist bekanntlich der Ernstfall schlechthin. Die Hinrichtungen im Zusammenhang mit Pornografie betreffen im Iran Darsteller und Darstellerinnen, auch Amateure, jedoch ebenso periphere Opfer, etwa Programmierer, deren Software von Pornoseiten genützt wird. Auch Pakistan hat mittlerweile zahlreiche Webseiten abschalten lassen. Der Kampf gegen die Pornografie beschränkt sich überdies nicht auf die arabische und islamische Welt, auch in anderen Staaten, allen voran China, wird zunehmend rigoros durchgegriffen.
Erst wenn die Öffentlichkeit ins Spiel kommt, und mit ihr die Familienehre, wird durchgegriffen.
Wie weit ist es nun her mit der – von Sexualwissenschaftler_innen wie Sven Lewandowski vertretenen – These der Mündigkeit oder auch Fähigkeit des Menschen, mit pornografischen Bildern und Bewegtbildern angemessen umzugehen? Shereen El-Feki schließt sich dieser Mündigkeitsthese nicht zur Gänze an und gibt zu bedenken, dass der Pornokonsum in den arabischen Staaten, zumindest in Ägypten, die Einstellung gegenüber dem sogenannten westlichen Lebensstil und dem Klischee der westlichen Frau nicht verbessert habe. Ihre empirischen Studien widersprechen hier bis zu einem gewissen Grad den eben erwähnten Überlegungen zur Mündigkeit der Bürger_innen. El-Feki (Interview mit Barbara Bleisch in: „Sternstunde Philosophie“, SRF 2016) weist stattdessen darauf hin, dass der Blick der arabischen Männer und Frauen auf die westliche Frau und das Leben im Westen in dem Maße verzerrt wird, wie ein von Pornographie geprägtes Bild der westlichen Frau bewusst oder unbewusst als Realität verkauft wird. Hier wird die pornografisch-standardisierte Vergewisserung der weiblichen Lust zur Bestätigung eines kulturell verankerten Vorurteils über das unstillbare und zugleich stets verlockende sexuelle Begehren der Frau. Eines der hartnäckigsten Klischees der arabischen Welt, so El-Feki, ist, dass die Frau ihrer Natur nach unersättlich ist und ihre Lust daher gebändigt werden muss. Die Schlussfolgerung mancher Ägypter_innen lautet El-Feki zufolge: Seht her, so sind Frauen, die nicht beschnitten sind. Die praktischen Auswirkungen der Verbreitung solcher Stereotype über die westliche Frau sind klar, zumindest werden die Beschneidungsrituale in Ägypten dadurch kaum zurückgehen.
Lust und Frustration liegen, wenn man El-Fekis Ausführungen folgt, im Maghreb eng beisammen. So beschreibt die Journalistin, wie viel Mühe in manchen nordafrikanisch arabischen Realitäten aufgebracht werden muss, um heimlich vorehelichen Sex zu haben, ohne gegen den herrschenden Kanon zu verstoßen, etwa durch Praktiken wie heimlichen Anal- und Oralsex, und das alles zu dem Zweck sich die Jungfräulichkeit zu erhalten. [Eine Argumentation, die im übrigen auch bei uns vor zwanzig Jahren durchaus noch zu hören war.] Die Eltern wissen offenbar häufig bescheid, schreiten aber nicht ein, denn in der Anonymität herrscht größerer Spielraum und augenscheinlich eine gewisse Freizügigkeit. Erst wenn die Öffentlichkeit ins Spiel kommt, und mit ihr die Familienehre, wird durchgegriffen. Doch geht es beim Ausloten der sexuellen Grenzen nicht nur um Sex, sondern auch um Möglichkeiten und Formen, die staatliche und vor allem gesellschaftlich familiäre Repression zu umgehen; was El-Feki zufolge gerade für junge unverheiratete Frauen in arabischen Ländern nicht gerade einfach ist, weil der Internet-Konsum streng kontrolliert wird. Auch hier geht es um Anonymität versus Öffentlichkeit.
Salto in Zusammenarbeit mit: Kulturelemente
Teil 1: Pornotopia – im Sog der Verfügbarkeit
Demnächst, Teil 3: Pornotopia – Normativität und Neue Ufer