So nah und doch so fern
Wenn Günther Pallaver, Alice Engl und Andrea Carlà an das Jahr 2016 denken, kommt den drei Politikwissenschaftler vor allem ein Thema in den Sinn: Flüchtlinge, Asylbewerber und Migration. Naheliegend daher, dass das neue Südtiroler Jahrbuch für Politik diesen Themen gewidmet ist. Kürzlich stellten Pallaver, Engl und Carlà die 9. Ausgabe von “Politika” vor. Dafür hatten sie einen Ort gewählt, der symbolhaft für die lokalen Herausforderungen in der Flüchtlingsfrage steht: den Bozner Bahnhofspark.
Unterschiede dies- und jenseits des Brenners
Das 280 Seiten umfassende Werk bietet einen Vergleich der Flüchtlingssituation und der Asyl- bzw. Migrationspolitik der drei Landesteile der Euregio Tirol – Südtirol – Trentino. Die Zahlen beweisen: Innerhalb der Euregio gibt es sehr starke Unterschiede. Ende 2016 lag die Zahl der aufgenommenen Flüchtlinge in Tirol bei 6.100, in Südtirol und Trentino hingegen bei jeweils rund 1.300. Gemein sind allen drei Ländern die Schwierigkeiten bei der Suche nach Unterbringungsmöglichkeiten. In Tirol haben 93 von 279 Gemeinden Flüchtlinge aufgenommen – “rund ein Drittel”, so EURAC-Forscherin Alice Engl. Im Trentino sind es 45 Gemeinden – etwas mehr als ein Viertel. Und in Südtirol gibt es in 18 von 116, also in knapp einem Sechstel der Gemeinden Aufnahmezentren. Im Unterschied zum Trentino, das sich am SPRAR-Programm beteiligt – sind sämtliche 27 Einrichtungen außerordentliche Aufnahmezentren.
Das zeige den grundsätzlichen Unterschied in der österreichischen und italienischen Asylpolitik auf, erklärt Günther Pallaver, der an der Uni Innsbruck lehrt. Italien sehe sich eher als Transitland, “entsprechend werden die Flüchtlingsbewegungen in Südtirol als außerordentliches Problem, als Notstand betrachtet”. Österreich sei hingegen ein traditionelles Einwanderungsland und setze daher vermehrt auf Integrationsmaßnahmen. Dieser Unterschied präge, so die Forscher, auch die Debatten zu Asyl und Migration in den drei Landtagen. “In Tirol sind sie eher pragmatisch und handlungsorientiert. Es geht um die Unterbringung und Erstversorgung der Personen, aber auch Arbeitsmöglichkeiten, Sprachkurse und psychologische Betreuung”, berichtet Engl. “Im Südtiroler und Trentiner Landtag ist die Debatte indes eher deutungsorientiert.” Dort gehe es vielmehr darum, wer oder was ein Flüchtling sei und die Kompetenzverteilung zwischen Staat und Provinz. Außerdem beschränkten sich die diskutierten Maßnahmen auf humanitäre Hilfe, Erstversorgung und Unterbringung und “Integrationsmaßnahmen werden im Vergleich zu Tirol weniger diskutiert”, so Engl.
“Die politischen Diskurse dies- und jenseits des Brenners haben sich auch 2016 inhaltlich nicht angenähert”, stellt die Forscherin fest. Und das, obwohl das Thema Asylsuchende auch grenzüberschreitend in der Euregio behandelt wurde: “Es scheint derzeit keine Basis für eine gemeinsame politische Strategie zu geben.” Dabei zeigt ein Blick auf die kleinste Ebene, dass die Unterschiede in Wirklichkeit so groß gar nicht sind. “Die Herausforderungen und Erfahrungen in den Gemeinden Tirols, Südtirols und des Trentino sind sehr ähnlich”, bestätigt Engl. Gemeinden seien bei der Aufnahme von Asylsuchenden wichtige Akteure, organisieren Unterkunft, Beschäftigungsmöglichkeiten, Integrationsangebote und Information für die Bevölkerung. “Obwohl es in allen Gemeinden vor der Aufnahme von Flüchtlingen Bedenken gab, haben sich diese nirgendwo bewahrheitet”, erklärt Engl.
Das war 2016: CasaPound, Demokratie-Experimente und alte Grenzen
Über die Schwachstellen des Projekts “Europaregion” schreibt auch Andrea Carlà, Arbeitskollege von Engl am Institut für Minderheitenforschung der EURAC. Von ihm stammt die Einleitung von “Politika 2017”. Er analysiert das vergangene Politjahr unter dreierlei Gesichtspunkten. Zum einen der Aufschwung von CasaPound, der bei den Bozner Gemeinderatswahlen bestätigt wurde. “CasaPound füllt ein Vakuum und spricht mit seinen Aktionen Wähler an, von denen die allermeisten keiner faschistischen Gesinnung angehören”, so die Beobachtung von Carlà.
Weiters beschäftigt er sich in seinem Essay mit der direkten und partizipativen Demokratie, die die Südtiroler Bevölkerung 2016 “für sich entdeckt” hat: Befragung zu Benko und Flughafen, Autonomiekonvent und nationale Referenden, insbesondere jenes zur Verfassungsreform. Schließlich widmet sich Carlà der Flüchtlingskrise und der Drohung aus Wien, die Brennergrenze zu schließen. “In dieser Phase ist es zum Bruch zwischen Südtirol und Wien gekommen, das bereit zu sein schien, das ‘Hätschelkind Südtirol’ für die innere Sicherheit zu opfern.” Dass Landeshauptmann Arno Kompatscher sich an die italienische Regierung wenden musste, um “die Rettung von Schengen und der Euregio” zu fordern, ist für Carlà bedeutungsschwer: “Eine Ironie der Geschichte.” Zum anderen stelle das Auftauchen “alter Grenzen” eine Niederlage für die Euregio dar, “die nicht in der Lage war, eine klare Haltung einzunehmen oder ihre Position durchzusetzen”.