Gesellschaft | Gastbeitrag

Ärzte ohne Kompetenzen?

Was stimmt und was nicht: Faktencheck und “ganzheitliche” Demontage eines dilettantisch formulierten offenen Briefes, der gegen die Covid-19-Maßnahmen wettert.
Corona
Foto: Pixabay
Ok, Boomers. Lasst und über verzerrte Darstellungen und Fakten reden. Und vor allem über Wissenschaft und ihr Gegenteil. Das Thema wird unter anderem in einem “offenen Brief” an Arno Kompatscher und Thomas Widmann (und andere) angerissen. Oder, wie ich sagen müsste, schlampig zu Papier gerotzt.
Der Brandbrief trägt den Titel “Schluss mit der Panikmache”. Der Salto-Text fängt richtigerweise mit einer kurzen Vorstellung der Verfasser an. Da hätten wir einen Psychologen, zwei Ärztinnen und zwei Zahnärzte. Für alle fünf werden Doktorgrade angeführt. Das verleiht dem Brief zunächst einen Hauch von Kompetenz und Autorität, die sich bei genauerer Betrachtung aber schnell stark relativieren. Ein Fall von falscher Autorität. Aber das ist nicht das einzige Problem.
 
Ein Fall von falscher Autorität. Aber das ist nicht das einzige Problem.
 

Der Faktencheck

 
Die Statements einzeln im Faktencheck.
 
Statement: “Laut Alto Adige wird am gleichen Tag [7. August 2020] dem Land Südtirol die „maglia nera“ verteilt, weil wir mit diesen 12 positiven Testergebnissen im nationalen Vergleich die Provinz mit den höchsten Infektionszahlen sind.”
 
Check: Diese Aussage stimmt so nicht. Am 7. August verzeichnet der Zivilschutzbericht acht betreute Covid-19-Patienten, vier Neuinfektionen und fünf Fälle auf der Station in Gossensaß. Alto Adige berichtet ebenfalls von zwölf Neuinfektionen. Der schwarze Peter wird Südtirol von der Tageszeitung aber nicht für den einen Tag zugeschoben, sondern für den Zeitraum vom 29. Juli bis inklusive 4. August. In dieser Zeit gab es 48 Neuinfektionen. Zwar gab es andere italienische Regionen mit höheren absoluten Infektionszahlen. Aber damit die Zahlen einen sinnvollen Vergleich ermöglichen, muss man sie in Beziehung zur Bevölkerungszahl setzen. Also 48 von wie vielen Bewohnern im Trentino-Südtirol? Eine Quellenangabe der Autoren hätte geholfen. Aber die findet sich im gesamten Schmähbrief nicht.
 
 
Zuerst wird Paul Rösch erwähnt, mit seinem im Impfgegner- und Coronarebellen-Dunstkreis mit wenig Gegenliebe aufgenommenen Vorschlag, wieder Masken zu tragen, auch in der Öffentlichkeit. Dann kommt “der Branzoller Bürgermeister” zum Handkuss, der eine „flächendeckende Testung“ aus dem gleichen Grund fordert. Ich dachte, Giorgia Mongillo wäre eine Frau. Als Patient hätte ich große Schwierigkeiten, einem Arzt zu vertrauen, der Männlein von Weiblein nicht voneinander zu unterscheiden weiß. Wie kann so jemand irgendeine Faktenlage beurteilen? Es sei denn, Bürgermeisterin Mongillo hatte letztens eine geschlechtsangleichende Operation. In diesem Fall betrachten Sie bitte mein Argument als nichtig. In der literarischen Hölle gibt es übrigens einen Stammtisch für Menschen, die Wörter wie „Testung“ schreiben.
 
Statement: Seit Wochen werden die europäischen „Qualitätsmedien“ von steigenden Corona-Fällen und Infektionen beherrscht – und die Südtiroler Medien machen fleißig mit!
 
Check: Wäre es wörtlich gemeint, würde es stimmen. Die Qualitätsmedien berichten von steigenden Covid-19-Infektionen. “Corona-Fälle”, liebe Ärzte-Truppe, gibt es nicht. Entweder sind es Infektionen mit Sars-CoV-2, dem Coronavirus, oder Covid-19-Erkrankte. Sorry fürs Erbsenzählen, aber Ihr macht hier auf Präzision und seid dabei schlampig wie sonst kaum jemand. Was aber noch wichtiger ist: Der ironische Seitenhieb auf “Qualitätsmedien”. Wieder eine verallgemeinernde Behauptung, unbelegt und ohne Substanz. Sowas ist gefährlich, weil es das Vertrauen der Bevölkerung in Berichterstattung erodiert. Tendenzen, die Medien bewusst zu diskreditieren, finden sich besonders häufig unter Verschwörungstheoretikern. Das stimmt mich bei solchen “Experten” nachdenklich.
 
Schauen wir uns also kurz ein paar Beispiele von offizieller Seite an:
 
Robert Koch-Institut (RKI)-Bericht vom 11.08.2020: In den letzten Wochen ist die kumulative COVID-19-Inzidenz der letzten 7 Tage in vielen Bundesländern angestiegen und der Anteil an Kreisen, die keine COVID-19-Fälle übermittelt haben, deutlich zurückgegangen. Dieser Trend ist beunruhigend.
Bericht des europäischen Seuchenzentrums ECDC vom 12.08.2020: Die Fälle steigen weltweit nach wie vor an. Es gibt Unterschiede zwischen den Ländern. Italien ist aber immer noch unter den “Top 5”, mit mehr als 250.000 registrierten Fällen. In den letzten 14 Tagen waren es mehr als 4.700 Neuinfektionen dort.
 
Und ein paar Clips aus Berichterstattung der “Qualitätsmedien” (unter Anführungszeichen)
 
WHO meldet weltweiten Rekordansteig (Tagesschau, 01.08.2020)
U.S. coronavirus infections surpass 5 million (Washington Post, 10.08.2020)
 
 
Das sind nur wenige Beispiele. Tatsächlich lassen sich hunderte Artikel dazu finden, aber ich überlasse das Googeln Euch. Der Text ist auch so lang genug. Und um’s klar zu sagen: Natürlich unterliege ich mit meiner Auswahl genauso dem Confirmation Bias wie jeder andere Mensch auch. Es sind nichtsdestotrotz gültige Gegenbeispiele, die den hanebüchenen Behauptungen des Brandbriefes klar widersprechen.
Als Geisterfahrer auf der Autobahn kann man sich schließlich auch wundern, wieso alle anderen in die falsche Richtung fahren. 
Können sich die Medien irren? Na klar. Machen Medienleute Fehler? Klar, und wie. Kann es der Fall sein, dass sich alle Medien gleichzeitig täuschen? Theoretisch ja! Aber wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit dafür? Als Geisterfahrer auf der Autobahn kann man sich schließlich auch wundern, wieso alle anderen in die falsche Richtung fahren. Man kann überall Lügen und Verschwörungstheorien der bösen, dummen Autoritäten wittern. Wenn man will.
 
Statement: “Anhand der Grafik des Südtiroler Zivilschutzes wird ersichtlich, dass die reale Virustodesrate wie jedes Jahr zum Frühsommer hin Richtung Null gegangen ist. [siehe Grafik unten]”
 
Check: Einen Vergleich “wie jedes Jahr” zeigt die Grafik nicht. Die Behauptung “wie jedes Jahr im Frühsommer” bagatellisiert die zugrundeliegende Ursache für die Tode und stellt damit Sars-CoV-2-Infektionen auf eine Stufe mit der alljährlichen Normalsituation an Todesfällen. Das erinnert an Suggestionen, dass Covid-19-Erkrankungen nicht gefährlicher als Influenza seien, oder dass sich das schon wieder von allein verzogen hätte. Letzteres ist aber ein klarer Fall von des Argumentum Ad Ignorantiam-Fehlschlusses. Keiner weiß es. Es handelt sich um reine Spekulation.
 
 
 
Statement: Es gibt so gut wie keine Erkrankten – und schon gar keine Todesfälle – mehr, auch weil man effiziente Therapien gefunden hat, welche das Warten auf eine Impfung unnötig macht.
 
Check: Der Teil mit wenigen Erkrankten und keiner Zunahme an Todesfällen stimmt. Das auf effiziente Therapien zurückzuführen, ist falsch. Das ist nicht nur ein logischer Trugschluss (nicht vorhandene Kausalität), sondern, es gibt keine bekannte spezifisch wirksame Therapie gegen Covid-19-Erkrankungen. Virushemmende Mittel wie Remdesivir wirken nur unter bestimmten Umständen, und auch da nur begrenzt. Dafür gibt es Auflagen (RKI-Bericht vom 06.08.2020), die etwa das Einleiten einer Studie bedingen und definieren, dass Patienten bereits eine Pneumonie aufweisen müssen, ehe sie das Medikament erhalten. Dass es also (in Südtirol) keine Erkrankten mehr gebe, weil man effiziente Therapien gefunden habe, ist Unsinn. Für eine Aussage wie “das Warten auf eine Impfung unnötig macht” aus den Mündern von Ärzten würde ich mit Schmackes eine Eselsmütze verleihen.
 
Statement: Seit 5. Juni hat es keinen Todesfall mehr gegeben in Südtirol, nicht einmal MIT Corona. Das ist Fakt!
 
Check: Wie schön wäre das. Keinen Todesfall mehr in Südtirol. Dann wären wir nicht nur die Insel der Glückseligen, sondern auch noch die Insel der Unsterblichen. Interessante Schreibweise mit Rufezeichen. Diese Art von Aufgeregtheit gehört eigentlich nirgendwo hin; ganz sicher aber nicht in die Wissenschaft. In Verschwörungsforen sieht man solche Schreibweisen häufiger.
 
Statement: Das Einzige, was zuletzt wieder leicht, fast unmerklich angestiegen ist, sind die positiv getesteten Menschen in Südtirol.
 
Check: Das stimmt, wobei auch die Anzahl derjenigen zu steigen scheint, die letztens unter dem Deckmantel der Wissenschaft Bereiche kommentieren, von denen sie keine Ahnung haben.
 
Statement: Die ganze Panik, die nun täglich medial ans Volk gestreut wird – um Masken, Social Distancing und freiwillige Tests zu fordern – ohne die schädlichen Nebenwirkungen auf gesundheitlicher, psychologischer, sozialer und ökonomischer zu berücksichtigen, beruht auf was???
 
Check: Kleines Sprach-Einmaleins: Beruht “worauf”. Ein Fragezeichen ist in der Regel genug, um eine Frage zu stellen. Auch dann, wenn’s eine rhetorische Frage ist. Inhalt: Was genau das unvollständige Satzfragment “ohne die schädlichen Nebenwirkungen auf gesundheitlicher, psychologischer, sozialer und ökonomischer zu berücksichtigen, beruht auf was???” heißen soll, ist unklar. Entweder ist es Kritik (die die Autoren aufgrund ihres Backgrounds kaum selbst ansprechen könnten, etwas Wirtschaft), oder es könnte ein bildlicher Ausdruck dessen sein, was mit Menschen passieren kann, wenn die Sauerstoffzufuhr durch Masken allzu lang unterbunden wird.
 
Statement: Ihr testet wie verrückt und findet Neuinfizierte. Wer definiert, wer infiziert ist? Der PCR-Test.
 
Check: Genau: Wer testet, findet Neuinfizierte. Was wäre die Alternative? Scheuklappen? Trump meinte ja auch, ohne Tests hätten die USA keine Coronafälle. Ein Geniestreich eigentlich. Weiter geht’s: “Wie verrückt?” Ein Blick auf die Zahlen. Südtirol hat 116.822 Abstriche gemacht (Stand: 11.08.2020) und dabei etwas mehr als 60.000 Personen getestet. Bei 532.080 Einwohnern (Stand: 31.12.2020 laut ISTAT), wären das knapp 219.600 Tests pro einer Million Einwohner. Damit liegt die Anzahl der Südtiroler Tests zwar bedeutend höher als die italienische, aber nur wenig höher als die russische, und immer noch hinter Dänemark und dem Vereinigten Königreich. Wenn wir also verrückt sind, gehören die Dänen und die Briten in die Klapse?
 
 
 
Statement: Das Land Südtirol gibt dauernd Zahlen über „Neuinfektionen“ heraus, ohne dabei anzugeben, welche Testvalidität, besonders welche Spezifität der PCR-Test hat. Es wird immer so getan, als wäre das Testergebnis die absolute Wahrheit, was eine 100%ige Verlässlichkeit dieses Tests suggeriert. Die gibt es aber nicht!
 
Check: Das stimmt. Einen wichtigen Teil des Gesamtbildes „vergessen“ die Autoren aber auch hier, weil sie Rosinen picken. Wenig überraschend haben die PCR-Tests eine gewisse Fehlerquote, wenn man so will. Wer genau wo suggeriert, dass die Methode perfekt sei, schreiben die Autoren wieder nicht. Vielleicht war auch aufgrund der vielen Rufezeichen einfach kein Platz mehr, um Quellen anzuführen. Insofern ist dies wieder eine unbelegte Behauptung, mehr nicht.
 
 
Zum PCR-Test: Die Aussagen bezüglich Spezifität stimmen zwar, sind aber nur ein Teil der Medaille. Die Spezifität beziffert im Prinzip die Falsch-Positiven, also im vorliegenden Fall fälschlicherweise als Covid-19-krank erkannten Menschen, während sie in Wirklichkeit gesund sind. Die Autoren beziehen sich unter anderem auf Prof. Dalpke, einen tatsächlichen Experten in puncto PCR-Genauigkeit. Derselbe Dalpke erwähnt übrigens, dass solche Falsch-Positiven extrem selten seien.
Genau: Wer testet, findet Neuinfizierte. Was wäre die Alternative? Scheuklappen?
Was Müller und Co. nicht erwähnen, ist die Sensitivität, der zweite wichtige Faktor in der Bestimmung der Genauigkeit von Testverfahren wie der PCR-Methode. Die Sensitivität bestimmt, wie viele tatsächlich Erkrankte von der Testmethode nicht erkannt werden. Diese Personen werden also unter Umständen als gesund deklariert. Ähnlich wie bei der Spezifität liegt die Sensitivität der PCR-Methode bei 97 bis 98 Prozent. Anders formuliert: Zwei von hundert Covid-19-Kranken gehen unerkannt wieder nach Hause. Überhaupt hängen Sensitivität und Spezifität selbst von mehreren Faktoren ab. Test ist nicht gleich Test, und die Qualität und mögliche Verunreinigung der Proben, sowie die von den Autoren erwähnte Verbreitung spielen ebenfalls eine Rolle.
 
Statement: Es wäre daher fundamental, die Testfehlerquote öffentlich zu machen, damit eine richtige Einschätzung der Lage auch dementsprechend der Bevölkerung weitergegeben werden kann.
 
Check: Transparenz ist schön, ja. Aber wieder muss ich raten, wie denn dieser Satz gemeint ist. Wer schätzt die Lage ein und gibt sie der Bevölkerung bei einer Veröffentlichung weiter? Schön, offenzulegen, wie sicher oder unsicher die Tests sind. Und dann? Die Methode ist dennoch der momentane Goldstandard in der Diagnostik. Aber nicht als alleiniges Werkzeug. Dazu gehören auch Voruntersuchungen, um die Aussagekraft zu steigern und Fehlerquote zu verringern. Das erwähnen die Autoren ebenfalls nicht. Passt vielleicht nicht so gut in die Argumentation und ist ein Paradebeispiel für Confirmation Bias.
 

Verschwörungsportal als Quelle

 
Mit Quellen haben’s die Autoren des Brandbriefes ohnehin nicht so. Und wenn eine auftaucht, dann sowas wie die folgende. Auweh. Was für ein Griff ins Klo:
 
Das zitierte Swiss Policy Research verleiht den Aussagen von Müller und Co. wieder einen Hauch von Autorität. Man möchte meinen, es handele sich um ein Staatsorgan. Es handelt sich aber tatsächlich um ein “alternatives Medium”, das bis Mai 2020 noch “Swiss Propaganda Research” (SWPR) hieß. Das Konsortium veröffentlicht anonym, bezichtigt Medien wie die NZZ und das Schweizer SRF als Propagandisten, besorgte Mitglieder verteilen Flugzettel. Felix Müller der NZZ am Sonntag schreibt in einem Artikel, dass hinter SWPR der Schweizer Daniele Ganser stecken könnte. Spannend! Historiker und Verschwörungstheoretiker Ganser war zu einem Vortrag nach Bruneck eingeladen, um darüber zu sprechen, ob man den Medien noch trauen kann. Organisator des Events: Der Verein “Primum non nocere”, eine Ansammlung von Impfmuffeln, 5G-Verteuflern und was sonst noch. Mit Ende Juli wurde der Verein allerdings aufgelöst. Webseite und Facebook-Seite wurden entfernt.
 
 
Statement: Am 9. Juni sagte die Technische Leiterin der Covid19-Notfall-Kommission der WHO, Frau Dr. Maria Van Kerkhove, dass laut ihren akribischen Studien mit Bewegungsprofilen in einigen Ländern herauskommt, dass Infizierte ohne Symptome – sogenannte „asymptomatische“ Infizierte – sehr selten andere anstecken können“!
 
Check: Das finde ich spannend. In der Tat forscht Virologin Van Kerkhove an Bewegungsprofilen. Es gilt hier aber zu unterscheiden: Van Kerkhove als Forscherin und Van Kerhove als WHO-Frontfrau. Ihre Behauptung auf der Genfer Pressekonferenz war zwar die, dass asymptomatische Infizierte andere selten anstecken. Aber langsam. Die WHO hat in offizieller Funktion, und Van Kerkhove selbst diese Aussagen stark relativiert:
 
“The majority of transmission that we know about is that people who have symptoms transmit the virus to other people through infectious droplets,” Van Kerkhove said. “But there are a subset of people who don’t develop symptoms, and to truly understand how many people don’t have symptoms, we don’t actually have that answer yet.” (Maria Van Kerkhove, 20.06.2020)
 
Auf der genannten Pressekonferenz sagt Van Kerkhove übrigens folgendes, um das Statement der fünf Autoren klarzustellen: Nicht ihre akribischen Studien, sondern Berichte aus Ländern, die Contact Tracing machen, deuten darauf hin, dass Infektionen über asymptomatische Infizierte nur selten seien. Sie zitiert eine Studie aus Singapur, die Contact Tracing betreibt, ohne auf deren Resultate einzugehen. Van Kerkhove sagt, es scheine selten zu sein, dass asymptomatische Fälle andere Menschen infizieren. Das heißt noch lange nicht, dass das auch belegt ist. Die Brandbrief-Autoren haben Van Kerkhove verwendet, um ihren eigenen Punkt zu untermauern und dabei ihren Standpunkt so dargestellt, als wäre die “sehr seltene Ansteckung” Gewissheit. Das ist irreführend, heißt Argumentum Ad Verecundiam und ist wieder ein Fehlschluss.
 
In der Tat gibt es Studien, die behaupten, dass asymptomatische Infizierte sehr wohl einen Einfluss auf die Übertragung des Sars-CoV-2-Virus haben und bis zu zwei Wochen nach einer Ansteckung, auch wenn sie asymptomatisch sind, das Virus übertragen. Einen eindeutigen wissenschaftlichen Konsens gibt es nicht, wie nicht nur Van Kerkhove selbst, sondern auch die WHO selbst einräumen. Die Darstellung der fünf “Experten” ist also unvollständig und irreführend (das ist höflich formuliert).
 
Statement: Daher empfiehlt die WHO seit Anfang Juni, nur real erkrankte Personen mit starken Symptomen zu isolieren. Die Pressekonferenz können Sie hier nachverfolgen:
 
Check: Nein. Diese Aussage ist falsch. Müller und Co. zitieren zwar eine WHO-Pressekonferenz, nehmen aber nicht die offizielle Quelle dafür her (stattdessen: Bloomberg). So wird das Statement aus dem größeren, differenzierten Gesamtkontext der PK gerissen. Die WHO hat am 17. Juni die Empfehlungen für die Isolation von Covid-19-Patienten veröffentlicht und aktualisiert. O-Ton (ohne die Referenzen):
 
For symptomatic patients: 10 days after symptom onset, plus at least 3 additional days without symptoms (including without fever and without respiratory symptoms)
For asymptomatic cases: 10 days after positive test for SARS-CoV-2
 
Dabei beruft sich die WHO auf Fallstudien mit asymptomatischen Fällen, speziell aus China. Also wieder mehrere Fragezeichen. Die Brandbrief-Schreiber führen weder genaue Quellen an noch den differenzierten Blickpunkt, den Van Kerkhove in ihren beiden Rollen sehr wohl darlegt.
 
Statement: Zudem scheint der von der Regierung verhängte Notstand laut einiger Juristen nur für andere Katastrophen, nicht aber für sanitäre Ausnahmezustände gesetzlich vorgesehen zu sein.

Check: Äh, what? Für die Ergreifung des Sinnes dieses sich als Satz verkleideten Schreibunfalls wird eine Belohnung in Höhe eines nicht-homöopathischen (also echten) Bieres ausgesetzt.
 

Gene und Nazis

 
Bis hierher war’s spannend genug. Der folgende Abschnitt des Brandbriefes ist Panikmache und strotzt vor Absurditäten, die Angst vor einem Impfstoff schüren.
 
Statement: Zur vielseitig immer wieder medial angepriesenen „Impfung gegen Covid19“ sei aus fachlicher Sicht folgendes angeführt: Diese „Impfung“ hat mit einer klassischen Impfung nichts zu tun, sondern ist eine neue Technologie, welche sich in die Proteinbiosynthese (Proteinherstellung) in unseren Zellen „einhackt“, die genetisch so manipuliert wird, das unsere Zellen als Kopiermaschinen für fremdes virales Protein benutzt werden!
 
Check: Ruhig Blut, Autoren. Sonst sterbt Ihr noch an Bluthochdruck und dessen Folgen, und nicht an Covid-19 oder sonstwas.
Zuallererst ist die mRNA-Methode nur ein möglicher Ansatz von vielen. Erprobt werden unter anderem auch und gerade in fortgeschrittenen Phasen (3) deaktivierte Covid-19-Erreger, ein Schimpansen-Schnupfenvirus und in einer Versuchsanordnung sogar der Tuberkuloseimpfstoff BCG. Laut WHO-Bericht vom 10. August 2020 befinden sich 39 Impfstoffe in der klinischen Bewertungsphase, sechs davon in Phase 3, könnten also möglicherweise zugelassen werden. Darunter befinden sich zwei Impfstoffe, die mit RNA arbeiten. Die Beschreibung der RNA-Impfstoffe der Autoren ist zwar nicht falsch. Die Darstellung wirkt aber hektisch (“!”) und negativ geframed: “Hacken” beispielsweise ist ein negativ beladener Begriff, der eine Straftat impliziert. Die Darstellung ist wieder einseitig verzerrt, RNA-Impfstoffe haben nämlich auch Vorteile, die die Brandbriefschreiber mit keinem Wort erwähnen:
 
 
“Impfstoffe mit unterschiedlich starker Immunantwort, die sich für Menschen mit geschwächtem Immunsystem, Schwangere oder Kinder eignen, sind wünschenswert. Auch hängt von der verwendeten Methode möglicherweise die Dauer der Immunität ab, zu der eine Vakzine verhilft“, erklärte Cichutek. Da der Körper das Antigen wie eine Kopiermaschine selbst produziert, kann man zudem „nach dem Gentechnikgesetz oder der Biostoffverordnung unter reduzierten Sicherheitsbedingungen arbeiten“ [...]. Der Ansatz der genbasierten Impfstoffe gilt auch als vielversprechend, da diese relativ schnell in großen Mengen produziert und – sollte der Erreger mutieren – abgewandelt werden können”
 
Statement: Diese Genmanipulation an Menschen ist noch so wenig erforscht, dass sie es noch nie bis zur klinischen Erprobung an den Menschen geschafft hat. Nun soll sie unter dem Vorwand der Dringlichkeit direkt an Menschen zugelassen werden, wir wären dann die Versuchskaninchen. Eventuelle Folgeschäden, die massiv zu erwarten sind, gehen per Gesetz auf Kosten des Staates und somit Bürger! Die Pharmaindustrie erhält die Milliarden, übernimmt aber keine Haftung! Das alles widerspricht dem Nürnberger Kodex, der seit 1947 internationale Gültigkeit hat.
 
Check: Die Abschluss-Schimpftirade, die einmal mehr unterstreicht, wie unwissenschaftlich die Argumentation der Autoren ist. Richtig ist, dass RNA-Impfstoffe bisher noch nicht zur Anwendung gekommen sind. “Unter dem Vorwand der Dringlichkeit direkt an Menschen zugelassen werden” zeichnet ein falsches Bild von Unsicherheit und Schnellschusslösung. Fakt ist, dass RNA-Impfstoffe, genau wie alle anderen, klinische Studien durchlaufen und erst nach Bestehen dieser zum Einsatz kommen. Genau wie alle anderen Impfstoffe werden dies neuartigen mRNA-Impfstoffe auch an Menschen erprobt. Dass Folgeschäden “massiv zu erwarten sind”, ist Unsinn. Wer so etwas behauptet, sollte es mit seriösen Quellen belegen. Nebenwirkungen sind wie bei jedem Medikament nicht auszuschließen. Pauschal gegen die böse Pharmaindustrie zu wettern, ist aber in Verschwörungskreisen anzusiedeln.
Den kapitalen Abschluss-Bock schießen die fünf Verfasser aber mit dem Hinweis auf den Nürnberger Kodex ab. Der wurde als Folge der medizinischen Nazi-Verbrechen eingeführt, um Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorzubeugen.
Den kapitalen Abschluss-Bock schießen die fünf Verfasser aber mit dem Hinweis auf den Nürnberger Kodex ab. Der wurde als Folge der medizinischen Nazi-Verbrechen eingeführt, um Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorzubeugen. Bekanntermaßen wurden von Nazi-Ärzten illegale Medizinversuche gegen den Willen von Menschen und zum Schaden dieser unter Gewalt gezwungenen Versuchspersonen durchgeführt. Dass also neu entwickelte Impfstoffe dem Nürnberger Kodex widersprechen, und auch die kritisierten Covid-19-Hygienemaßnahmen, ist falsch. Und geschmacklos nebenbei.
 

Das Fazit

 
Diesem offenen Brief fehlt es an allem. Die illustre Gruppe von “Experten” ist nicht einschlägig qualifiziert, um die Themen ausreichend und hintergründig zu kommentieren. Das merkt man an den teilweise haltlosen Behauptungen, fehlenden Quellen und an der verzerrenden Darstellung. Die zahlreichen Ausdrucksfehler und die aufgeregte Ausdrucksweise mit vielen Rufe- und Fragezeichen tun ihr Übriges, um die Autoren eher in die Ecke der besorgten Wutbürger zu schubsen. Unterstellungen wie Verstöße gegen den Nürnberger Kodex sind selten gesehener Unsinn und schlichtweg falsch. Die Argumentation, die sich unter anderem auf verschwörungstheoretische Alternativmedien wie “SWPR” beruft, ist lachhaft (auch wenn man eher weinen sollte). Scheinargumente und Halbwahrheiten (also teilweise richtige Aussagen, die aber andere Aspekte klar auslassen) runden das Bild dieses Briefes ab. Der Text trägt den Titel „Schluss mit der Panikmache“, dabei ist er selbst genau das: Panikmache.
 
Das einzige, was an diesem Brandbrief brennen sollte, ist dieser unsägliche Wisch selbst.