Gesellschaft | Jugendarbeit

Mut, den Raum zu betreten

Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen besuchen den Tiroler Jugendtreff Check-In. Inklusion sei in erster Linie eine Frage des Wollens und danach erst des Wie-Könnens.
Hinweis: Dies ist ein Partner-Artikel und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.
Alex Lang mit Mutter Manuela Siller
Foto: Alex Lang mit Mutter Manuela Siller (c) Privat

Die Kegelbahn von Dorf Tirol war an jenem Herbsttag 2017 geschlossen. Dafür war die Tür zum Check-In offen. Da standen also mehrere Jugendliche und eine Begleitperson der Sozialpädagogischen Tagesstätte Mosaic aus Meran und wussten nicht recht wohin. Ulrike Alber, bis 2020 einzige Jugendarbeiterin in Teilzeit im Jugendtreff Check-In, sah die jungen Leute und lud sie auf einen Besuch in den Jugendtreff ein. Die Sozial- und Erlebnispädagogin hatte mehrere Jahre eine Wohneinrichtung für Menschen mit Behinderungen geleitet, in denen sie Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen begleitete. Rückblickend betrachtet war die geschlossene Kegelbahn vor sechs Jahren ein Gewinn für alle: Das anfängliche Besuchsprojekt floss 2019 in die laufende Tätigkeit des Tiroler Jugendtreffs ein.

Ulrike Alber lud die jungen Leute mit Autismus-Spektrum-Störungen nach dem Zufallsbesuch ein, erneut zu kommen. Ab Herbst 2017 fuhren die jungen Menschen alle 14 Tage jeweils freitags von Meran zum Jugendtreff nach Tirol. Für die jungen Besucher*innen des Check-In waren die Gäste aus Meran anfangs fremd, manche waren skeptisch, kamen an dem Tag später, freundeten sich dann aber mit der neuen Situation am Freitagnachmittag an – auch, als die jungen Leute von Caritas-Mosaic ab 2019 wöchentlich kamen.

Inklusion ist in erster Linie eine Frage des Wollens und dann erst eine des Könnens

„Jugendarbeit hat Potential“, sagt Ulrike Alber. Sie hatte vom ersten Tag an keine Berührungsängste und auch keine ihrer Kolleg*innen, die im Check-In später dazukamen: Anna Weithaler, Tobias Habicher, Caterina Pineschi, Benjamin Condotta und Ayoub Lamzand zeigten sich offen und ließen sich auf den übergemeindlichen Austausch ein. „Inklusion ist in erster Linie eine Frage des Wollens und dann erst eine des Könnens“, sagen sie. Auch der Vereinsvorstand des Jugendtreffs verstand die Gäste aus Meran als Möglichkeit, sich mit anderen Lebenswelten und Realitäten auseinanderzusetzen und sie zu vernetzen. Trotz mehrfachen Personalwechsels hat sich das Projekt weiterentwickelt, die Anbindung an die laufende Tätigkeit ist gelungen und nicht mehr personenabhängig.

Alex Lang kommt gerne.

Alex Lang war von Anfang an dabei. Der junge Mann ist heute 19 Jahre alt, maturiert im kommenden Jahr am Klassischen Gymnasium Meran und fährt jedes Mal gerne in den Tiroler Jugendtreff. Er freut sich sehr darauf, als DJ Musik aufzulegen, spielt gerne Billard, mag Maoam. Im vergangenen Sommer hat er beim Projekt „Tic Tac Talent“ im Check-In mitgearbeitet. Jugendliche von 14 bis 19 Jahren können dabei soziale und öffentliche Einrichtungen kennenlernen und mit anpacken. Die gesammelten Punkte können sie in Gutscheine für Kino, Schwimmbad oder Konditorei umwandeln.

Alex Lang im Jugendtreff Check In
Alex Lang im Jugendtreff Check-In

Für Menschen im Autismus-Spektrum sind Veränderungen meist nicht einfach

Manuela Siller ist die Mutter von Alex. Sie ist froh über jede Praktika-Möglichkeit für ihren Sohn. Er sei unkompliziert, sagt sie. Er benenne klar, was ihm gefällt und was nicht. Im Jugendtreff wird er auf- und angenommen, wie er ist. Auch wenn er freitags nur zwei Stunden dort ist, tut ihm das gut, wenn es zu laut wird, möchte er lieber weg. „Für Menschen im Autismus-Spektrum sind Veränderungen meist nicht einfach“, erklärt Ulrike Alber vom Check-In. Daher haben die Jugendarbeiterin, der Vereinsvorstand und die Verantwortliche der sozialpädagogischen Tagesstätte anfangs vereinbart, den Jugendtreff eine halbe Stunde früher aufzusperren, um den Gästen aus Meran die Möglichkeit zu geben, sich mit der neuen Umgebung anzufreunden. So ist Vertrauen entstanden, das frühere Aufsperren wurde obsolet.

Anna Weithaler vom Check-In ist froh, dass die jungen Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen jede Woche kommen: „Das tut allen Beteiligten gut“, sagt sie. Es weite den Blick, stärke Respekt und Toleranz, mache solidarisch und offen. „Wir merken an kleinen Dingen, dass das Zusammensein der jungen Menschen aus Tirol und Meran gelingt“, sagt die Jugendarbeiterin. Sie hätten ihren Platz gefunden, wollen sich austauschen und in Kontakt kommen. Check-In gebe die nötige Sicherheit, da entstehen neue Möglichkeiten.

Dem Leben zugewandt

Von Möglichkeiten spricht auch Manuela Siller. Die 51-jährige Mutter von Alex arbeitet in einem Reisebüro und ist froh um den Jugendtreff Check-In und um die Dienste von Includio und Mosaic der Caritas. Deren Mitarbeiter*innen kümmern sich um Jobs und Tagesgestaltung für Menschen mit Beeinträchtigung. Bereits in der Mittel- und Oberschule ist Alex viel Verständnis begegnet: Er muss nichts unter Druck machen. Er hat seinen eigenen Rhythmus, arbeitet sehr genau, aber langsamer als andere. Trifft er auf Ungeduld, blockt er ab. Die Herausforderung, auf Mitschüler*innen zuzugehen, bleibt. „Alex tut sich oft schwer, ein Gespräch zu beginnen“, sagt Manuela Siller. Ihr Sohn kenne keine Floskeln und keinen Smalltalk. Er spricht direkt an, was in seinem Fokus ist. Das schreckt sein Gegenüber manchmal ab. Er sei dem Leben zugewandt, positiv, gut aufgelegt und unkompliziert, beschreibt ihn die Mutter. Auch wenn sich Bezugspersonen verändern, ist das für Alex kein Problem.

Das bestätigt auch Claudia Stricker, Mitarbeiterin von Mosaic. Der Dienst der Caritas in Meran bietet 31 Kindern und Jugendlichen mit Autismus-Spektrum-Störungen Betreuung an den Nachmittagen und am Samstag an. Jungs sind viermal häufiger von Autismus betroffen als Mädchen, bei Mosaic werden 27 Jungs und 4 Mädchen begleitet. Der Jüngste ist 5 Jahre alt, der Älteste ist Alex mit 19 Jahren. Er besucht die Tagesförderstätte seit neun Jahren, letzthin nicht mehr so häufig: „Andere Dinge bekommen Priorität“, sagt Claudia Stricker. Es geht bei Alex inzwischen stärker um die Suche nach Praktika- und Arbeitsplatz.

Wir gestalten mit den jungen Menschen Freizeitaktivitäten verbunden mit Kompetenztraining

Autismus-Spektrum-Störungen sind neurologische Entwicklungsstörungen und nicht heilbar. Die Hoffnung, ein eigenständiges Leben zu führen, kann durch gezielte Förderungen von Klein auf verbessert werden: „Wir gestalten mit den jungen Menschen Freizeitaktivitäten verbunden mit Kompetenztraining“ sagt Claudia Stricker. So wird gemeinsam der Tisch gedeckt, die Spülmaschine ein- und ausgeräumt, gehen die jungen Menschen gemeinsam in den Wald und fahren einmal in der Woche nach Dorf Tirol in den Jugendtreff. Die jungen Leute fahren allein mit dem Bus, die Begleiter*innen separat. Es geht um das Lernen sozialer Kompetenzen, um die Bewältigung von Alltagsaufgaben, um den Umgang mit Gleichaltrigen, um das Fördern ihrer Autonomie.

Auf das Projekt eingelassen

 

Jugendarbeiterin Ulrike Alber
Jugendarbeiterin Ulrike Alber

Bei uns im Jugendtreff haben die jungen Menschen außerhalb der Schule die Möglichkeit, sich zu entdecken und zu erproben

Ulrike Alber und Anna Weithaler vom Check-In erklären: „Bei uns im Jugendtreff haben die jungen Menschen außerhalb der Schule die Möglichkeit, sich zu entdecken und zu erproben.“ Sie tun das in einem Rahmen, in dem sie auf Menschen treffen, die Fachwissen rund um Autismus-Spektrum-Störungen haben. „Wir werden den einzelnen Bedürfnissen gerecht, wenn die Gruppe nicht zu groß ist“, sagt Anna Weithaler vom Check-In. Die jungen Gäste mit Autismus-Sektrum-Störungen bräuchten Unterstützung beim Übersetzen ihrer Bedürfnisse. Es gilt, in der Gruppe Ausgleich und Harmonie zu wahren und auch neue Gäste zu integrieren. Da passieren Begegnungen, die im Alltag nicht einfach geschehen: „Wir leben das Prinzip der Offenheit und Vielfalt.“ Der Jugendtreff tut das ohne zusätzliche Finanzierungen.

Jugendarbeiterin Anna Weithaler
Jugendarbeiterin Anna Weithaler

 

„Wir können alle voneinander lernen“, sagt Anna Weithaler. Dieses Integrationsprojekt könne für andere Jugendtreffs und Jugendzentren beispielgebend sein kann. Ulrike Alber ergänzt: „Diese jungen Menschen zeigen uns deutlich, dass jede*r von uns die Welt anders wahrnimmt.“ So entwickle sich ein neues Verständnis füreinander.

Mut und Offenheit gefragt

Inklusion heiße aber auch, dass es eine Realität des Ausschließens gibt: Es brauche Vertrauen, Zusammenarbeit und die Bereitschaft, die eigenen Kompetenzen und sich selbst weiterzuentwickeln, sagen die Mitarbeiter*innen des Jugendtreffs. Offenheit allein schafft das nicht. Es braucht auch Mut, den Raum zu betreten. Für junge Menschen im Check-In ist das längst Realität geworden, sie wurden darauf vorbereitet, haben sich flexibel gezeigt und auf die Änderung eingelassen.

Auch wenn Alex seine Zeit am liebsten mit den Eltern und Großeltern verbringt und sich mit sich alleine genauso wohlfühlt, erlebt er jedes Mal Freude, wenn er ins Check-In fahren kann: Einmal möchte er mit dem Jugendtreff von Tirol auch in den Urlaub fahren.

Text: Maria Lobis