Mehr als Essen und Schlafen
“Vor fünf Jahren war die Welt von Christian noch in Ordnung: Er hatte einen Job, Frau und Kind. Dem psychischen Druck an seiner Arbeitsstelle hielt er irgendwann aber nicht mehr Stand, seine Familie war daran leider schon zerbrochen. Plötzlich hatte Christian nichts mehr: Keine Arbeit, keine Familie, keine Freunde. Die Folge: Christian verlor jeglichen Halt und zu guter Letzt auch noch die Wohnung. Bis ihn die Ordnungskräfte auf einer Parkbank aufgriffen…”
Es sind Geschichten wie diese, die die Mitarbeiter in den Obdachlosenheimen im ganzen Land zu hören bekommen wenn sie neue Bewohner willkommen heißen. Es sind nicht mehr allein die Sandler, die unter der Brücke oder auf der Parkbank schlafen – unrasiert und ungepflegt, neben sich einen Weinkarton, die heute mit dem Ausdruck “Obdachlose” gemeint sind. “Es sind Menschen, die bis vor kurzem noch mitten im Leben und in der Gesellschaft gestanden haben, durch eine Serie von negativen Umständen aber ihre Wohnung und damit ein Stück Normalität und Würde verloren haben”, wissen die Caritas-Direktoren Franz Kripp und Paolo Valente über die “neuen” Obdachlosen, deren Zahl in Südtirol “spürbar zugenommen hat”.
“Obdachlosigkeit ist die schlimmste Form der Armut.”
(Franz Kripp und Paolo Valente)
Insgesamt 16 öffentliche und private Einrichtungen gibt es südtirolweit, in denen wohnungs- und obdachlose Menschen eine Unterkunft finden können – und Hilfe, um einen Weg zurück in ein selbstbestimmtes Leben zu finden. Elf davon befinden sich in Bozen, drei in Meran und je eine in Brixen und Bruneck. Über 100.000 Nächtigungen verzeichnen die Häuser inzwischen in einem Jahr. Allein die Caritas betreute 2016 in den neun von ihr geführten Einrichtungen rund 800 Männer, Frauen und Familien. Eine Besserung der Situation ist keine in Sicht – im Gegenteil.
Über den Moment hinaus
Um auf das Phänomen der Obdachlosigkeit, das sich in den vergangenen Jahren “stark verändert hat” und die neuen Bedürfnisse zu reagieren, hat die Landesregierung am Dienstag (14. März) neue Leitlinien für die Obdachlosenarbeit beschlossen. “Nicht mehr auf Momentlösungen, sondern das gesamte Leben der Obdachlosen in den Blick nehmen” – unter diesem Motto stehen die nun neu ausgerichteten Maßnahmen. Allen voran soll ein Umdenken in der Arbeit mit obdachlosen Menschen stattfinden und der Schwerpunkt “auf die Begleitung hin zu einem möglichst eigenständigen Leben gesetzt werden”, erklärt Soziallandesrätin Martha Stocker. “Mehr als Essen und ein Schlafplatz” soll Obdachlosen also zur Verfügung gestellt werden, wie es Landeshauptmann Arno Kompatscher auf den Punkt bringt: “Wir wollen Angebote verstärken, über die eine Wiedereingliederung in die Gesellschaft und das Arbeitsleben stattfinden kann. Die Obdachlosen sollen die Chance bekommen, zu ehemaligen Obdachlosen zu werden.”
Über Asylbewerber hinaus
Betonen wollen sowohl der Landeshauptmann als auch die Landesrätin, dass sich das Land für diesen potenzierten Einsatz für Obdachlose “unabhängig von der Thematik Flüchtlinge und Asylbewerber” entschieden hat. “Wenn letzthin der Eindruck entstanden ist, dass wir uns nur um Asylbewerber kümmern und die Obdachlosen vergessen, dann sage ich klar, dem ist nicht so”, unterstreicht der Landeshauptmann. “Das Thema Obdachlosigkeit beschäftigt uns seit Jahren und geht weit über die Asylbewerber hinaus.” Bestreiten, dass die Zahl der Obdachlosen aber auch aufgrund der in Südtirol strandenden Flüchtlinge stetig ansteigt, will Arno Kompatscher aber nicht. Auch bei der Caritas erwartet man sich, dass sich das Phänomen in naher Zukunft zuspitzen wird – “aufgrund des Wohnproblems der Flüchtlinge, die sich trotz Anerkennung schwer tun, auf dem Wohnungsmarkt eine Unterkunft zu finden”, so Kripp und Valente. Und dann sind da noch jene Asylbewerber, die einen negativen Bescheid bekommen – und damit vor dem Nichts stehen. Ja, es sei davon auszugehen, dass die Zahl der Menschen, die aus diesem Grund auf der Straße landen zunehmen wird, gesteht der Landeshauptmann. “Aber grundsätzlich ist für diese Personen die Rückführung in ihr Heimatland vorgesehen und umzusetzen.”
Um jene, die – aus welchem Grund auch immer – an einem der 16 Obdachlosenheime anklopfen, will man sich indes besonders kümmern. Wie um Christian, der nach seinem Absturz in einem Obdachlosenhäuser der Caritas gelandet ist, wo er, unterstützt von den Mitarbeitern, an seiner Rückkehr in ein “normales” Leben arbeitet – “mit guten Aussichten auf Erfolg”, heißt es.
Dann sollte auch nicht mehr
Dann sollte auch nicht mehr von Obdachlosenheimen bzw -einrichtungen sondern von Diensten gesprochen werden. Deren Aufgabe muss bei der Prävention von Wohnungsverlust beginnen, die Menschen ambulant in eigenständigen Wohnungen begleiten (Housing first) und für bestimmte Gruppen (schwer suchtkranke, ältere Menschen) auch intensiver betreute unbefristete Angebote bereitstellen.