Pressefreiheit in der Türkei erneut verletzt
Auf den Tag genau vor einem Jahr platzte in der Türkei der Korruptionsskandal, der auch die Familie des derzeitigen Staatspräsidenten Erdogan in Verruf brachte. Ein abgehörtes Telefongespräch zwischen Erdogan und seinem Sohn zirkulierte damals im Internet, in dem der Vater den Sprössling aufforderte, das zuhause versteckte Geld in Sicherheit zu bringen. Als Drahtzieher dieser "Diskreditierungsoperation" beschuldigte Erdogan seinen ehemaligen Verbündeten Fetullah Gülen, der mittlerweile zum Erzfeind des Staatspräsidenten geworden ist.
Dass ausgerechnet jetzt, sozusagen am Jahrestag dieses Korruptionsskandals, 32 Personen festgenommen worden sind, die Gülen nahestehen, wird in Istanbul als späte Rache am rechtskonservativen Islamisten interpretiert, der seit 1997 in den USA im Exil lebt.
Unter den Festgenommenen befindet sich der Chefredakteur der rennomierten regimekritischen Tageszeitung Zaman, Ekrem Dumanli, der unter lautstarken Protesten von mehreren hunderten Demonstranten in Handschellen abgeführt wurde. Weitere 23 Journalisten landeten im Gefängnis, darunter die Chefs und Produzenten des Fernsehsenders Samanyohu TV, der von Gülen finanziert wird. Ihnen allen wird vorgeworfen, einer terroristischen Organisation anzugehören, die den Staat aus den Angeln heben will.
Damit wird die Türkei einmal mehr ihrem Ruf gerecht, die Pressefreiheit mit den Füssen zu treten. Laut " Reporter sans frontiers " steht die Türkei an 154. Stelle was die Pressefreiheit betrifft. Die Liste umfasst 180 Staaten. Doch auch Polizisten sind Opfer dieser Verfolgung: der ehemalige Chef der Anti-Terroreinheit von Istanbul, Tufan Urguder, wurde ebenfalls festgenommen.
Gülen kritisierte das Vorgehen der Polizei gegen Andersdenkende als Hexenjagd. Unter Erdogan sei die Türkei zu einem Ein-Mann-Staat geworden, was zu einem Imageverlust im Ausland führe. Der in Pennsylvania untergetauchte Islamprediger verfügt in der Türkei über ein ausgedehntes Netzwerk aus Schulen, Banken und Medien. Er will einen gemässigten, mit dem modernen kapitalistischen Wirtschaftssystem kompatiblen Islam verbreiten.
Die EU-Aussenbeauftragte Federica Mogherini bezeichnete die Festnahmen als unvereinbar mit der Freiheit der Medien. Sie stünden im Gegensatz zu europäischen Werten und Standards. Damit spielte sie auf die erst jüngst wieder erwachten türkischen Bestrebungen an, der EU beizutreten. Ministerpräsident Renzi hatte bei seinem Türkei-Besuch versprochen, sich für eine EU- Aufnahme der Türkei stark zu machen. Dieses Ziel dürfte nun wieder in weite Ferne gerückt sein.
Die am Sonntag durchgeführten Festnahmen wurden bereits vor drei Tagen vom anonymen und geheimnisvollen Twitter-Nutzer Fuat Avni angekündigt. Im Netz ist er zum Star geworden, weil er alle Polizeiaktionen im Voraus vermeldet. Im August twitterte er, dass 32 Polizisten aufgrund fingierter Anschuldigungen festgenommen werden würden. Das trat auch ein. Die gewalttätigen Reaktionen der Polizei auf die Proteste am Taxim-Platz zur Aufrechterhalung des Gezi-Parks sagte Fuat Avni ebenfalls voraus.
Seit Monaten wird darüber gerätselt, wer sich hinter diesem Twitter-Nutzer versteckt. Er muss auf jeden Fall dem inneren Machtzirkel Erdogans angehören, weil er davon schreibt, er habe dem Tyrannen in die Augen geschaut. Als sein Account blockiert wurde, eröffnete er wenig später einen neuen, der tags darauf bereits mehrere hunderttausend Follower verzeichnen konnte.