Die Klage der Amseln
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Heute erwarten sie, dass wir weiter jeden Morgen singen, sind selbst aber nicht mehr bereit, etwas für uns zu tun. Im Gegenteil, sie streuen Gift aus in den Obstwiesen, in den Weingärten und auf den Gemüsebeeten. Sie fühlen sich sogar bemüßigt, die Ränder der Felder und der Wege mit Unkrautvernichtungsmitteln zu besprühen, um ein paar lästige Gräschen auszumerzen, und merken nicht, dass sie zugleich Käfer, Würmer, Spinnen und anderes Getier vernichten und zahlreichen wunderbaren Pflanzenarten ihre Lebensgrundlage wegnehmen. Damit wird unsere Futtersuche immer mühseliger. Wir haben uns in die Wälder zurückgezogen. Aber es ist doch klar, dass wir auch in den Obstanlagen und Weingärten nach Nahrung suchen müssen.
Die Wasserläufe haben sie unter die Erde verlegt, sodass kaum noch Bächlein plätschern, die für uns und für viele andere Tiere ein ungemein wichtiges Ökosystem darstellen. In den Wäldern versiegen die Bächlein Jahr um Jahr aufgrund der wachsenden Trockenheit. Und damit schwinden wieder viele Pflanzen und Tiere dahin. Wir glauben, die Menschen verstehen sehr wenig von Natur, wenn sie sie nicht besser zu schützen imstande sind. Für uns heißt das, dass wir das Wasser in den Obstgärten und Weingütern suchen müssen, wo die automatischen Bewässerungsanlagen laufen, mit der Gefahr, dass wir immer wieder mit Spritzmitteln und Düngemitteln in Kontakt kommen und unsere Gattung allmählich chemisch verseucht wird. Die Hagelnetze behindern unseren freien Flugverkehr und engen den Spielraum für den Nestbau immer mehr ein.
Wenn der Mensch eine von uns sieht, so denkt er nicht darüber nach, woher sie kommt. In seiner Wahrnehmung sind wir einfach da. Tagein tagaus, jedes Jahr. Er begreift nicht, dass ihn zeitlebens viele Generationen von uns begleiten. Wir machen uns nichts aus farbenfrohen Kleidern. Unser Gefieder ist schwarz- und graubraun, die Schnäbel gelb – männliche Eitelkeit - oder dunkel. Wir sind wunderbare Sängerinnen und Sänger, große Flugkünstler und Nestbauer. Wir fühlen uns in den Wäldern und in den Gärten der Menschen wohl. Zu morgendlichen Singstunde treffen wir uns auf den Bäumen. Wir spazieren paarweise oder in Grüppchen neugierig durch den gemähten Rasen und die Blumenbeete, graben nach Futter für den Tag und die Kleinen im Nest. Wie lieben Insekten und Regenwürmer, sind aber auch begeisterte Kirschen- und Traubenfresser. Letzteres verzeihen uns viele Menschen nicht, da wir ihnen die steuerfreie Ernte dezimieren. Schädlinge nennen sie uns und die Landesregierung hat uns zu Tausenden zum Abschuss freigegeben.
Wenn die Menschen uns sehen, sollte sie eine Ahnung davon überkommen, wie unsere Vorfahren dereinst gute Zeiten erlebt haben, als wir in den Liedern der Menschen mit Stolz erwähnt wurden und die Menschen noch im Einklang mit der Natur lebten. Es gab noch offene Wasserläufe, genügend Nistplätze und bei den Häusern Brunnen, um sich zu laben. Damals, als es noch viele von uns gab und wir nicht ständig auf der Hut vor Katzen sein mussten, haben wir Kunstflugwettbewerbe durch das Laubdach der Bäume und entlang der Häuser und der Zäune organisiert. Übermütig und so elegant wie atemberaubend zogen die jungen Vögel ihre Flugbahnen durch die Gärten und die Landschaft, einzeln, um die anderen zu beeindrucken und für sich einzunehmen, zu zweit, um gemeinsame Lebens- und Insektenfangrouten zu erkunden. Ihre Freude über das Dasein zeigten sie bei Trippel- und Hüpfreigen und neckischem Fangenspiel.
Heute scheinen die Menschen Bäume nicht mehr zu schätzen, da sie sie in Wohngebieten entfernen. Die Böden werden nicht als fruchtbringendes Geschenk der Natur gepflegt. Die Menschen walzen die Böden glatt und versiegeln sie mit Teer, damit sie mit ihren Autos schnell von A nach B fahren können. Unsere Flugschneisen zwischen Obstwiesen und Weingärten werden ständig von stinkenden Fahrzeugen mit hoher Geschwindigkeit durchkreuzt. Unsere Bestände sind dezimiert. Das heißt nicht, dass unsere Gattung gefährdet ist. Doch die Lebensbedingungen werden schwieriger. Vor allem wird uns durch Hürden und Feindseligkeiten der Spaß am Dasein genommen.
Und das Leben soll ja Freude machen. Sonst verlernen wir das Singen wie die krächzenden Krähen, die inzwischen in Scharen unseren Himmel bevölkern und uns unseren Lebensraum streitig machen. Wir überlegen ernsthaft, im kommenden Frühjahr einen Singstreik auszurufen. Wir haben auch schon Verbündete gefunden. Die Schwalben, die Störche und die Kraniche sind auch verärgert, da sie mit denselben Problemen zu kämpfen haben. Den Schwalben haben die Menschen sogar die Freileitungen der Stromversorgung als Versammlungsorte vor dem Abflug in den Süden weggenommen. Das ist eine unzulässige Einschränkung der Verlassbarkeit des Territoriums, wie die regionale Zugvögelkammer festgestellt hat. Sie wird sich auch gegen die Fallensteller und die illegalen Abschusspraktiken entlang der Rastplätze zwischen Skandinavien und Afrika zur Wehr setzen. Gemeinsam mit anderen Zugvögelkammern will sie nun den Europäischen Gerichtshof anrufen, um die Sicherheit der Flugrouten sicherzustellen. Hierfür sollen die Jäger nur mehr mit Platzpatronen ausgestattet und in ehrenamtliche Fluglotsen umgeschult werden.
Das Artensterben vollzieht…
Das Artensterben vollzieht sich großteils im Verborgenen. Auch die Medien scheren sich nicht drum und ebensowenig die Regierungen. Hauptsache der Rubel rollt. Wenn man vergleicht, wie viel Aufmerksamkeit Sportler, Stars und Sternchen oder Promis bekommen, möchte man meinen, es ist auch total egal.