"Wie ähnlich wir uns doch sind"

Im August konnte ich zehn Tage lang erleben, eine Marokkanerin zu sein. Ich war eine von 19 Jugendlichen aus Südtirol und Trentino, die den Mut und das Glück hatten, bei einer marokkanischen Familie aufgenommen zu werden.
Zum ersten Mal im Leben bin ich in einer neuartigen Situation. Meine Familie besteht plötzlich aus sechs Personen anstatt vier, die Hausarbeit erledigt eine Haushälterin und mein dreistöckiges Haus steht in einer wohlhabenden Vorstadt von Rabat, der Hauptstadt Marokkos.
Ungefähr vier Monate bevor das Projekt „Hallo Ciao Maroc“ startete, habe ich mir gedacht, dass ich in diesem Familienaustausch lernen müsste, mit weniger auszukommen. Mit weniger Essen, weniger Kleidung. Ich habe gedacht, dass ich mit langärmeligem Leibchen und Jeans unter der sengend heißen Sonne auf Straßen stehen würde, auf die sich keine Frau getrauen darf. Marokko ist immerhin ein muslimischer Staat. Und er befindet sich in Afrika.
Die Südtiroler und Trentiner Jugendlichen mit ihren Gastgeschwistern.
Ich habe falsch gedacht. Denn ich muss nicht auf wesentliche Dinge meines Südtiroler Alltagslebens verzichten, ich kann frei in kurzen Hosen herumgehen und begegne auf den Straßen fast mehr Frauen als Männern. Es ist nicht einmal so klischeehaft heiß, wie man sich Marokko generell vorstellt, sondern angenehm warm. Nein, ich muss keinen Hunger leiden, sondern werde mit üppigen Mahlzeiten gut ernährt. Fleisch kommt jeden Tag auf den Tisch, und zwar in eine große Schüssel in die Mitte. Gegessen wird mit den Händen.
Gebannt versuche ich hin und wieder, die großen Unterschiede zu finden. Entweder finde ich keine, weil ich mich so schnell an meine neue Umgebung angepasst habe, oder weil es einfach wenige davon gibt. Es ist dennoch „anders“ als in Südtirol: An den Rändern der im Normalfall vierspurigen Straßen sind Palmen eingepflanzt und von Bergen ist auch am Horizont keine Spur. Stattdessen umarmt der Atlantische Ozean die Westküste der Stadt. Im „Hitradio“ werden vorwiegend französische Hits gespielt. Viele marokkanische Flaggen und Fotos des aktuellen Königs dekorieren die Stadt. Auch die Jugendlichen sind „anders“ als ich: Sie sprechen untereinander Marokkanisch und manchmal auch Französisch.
Tag für Tag spüre ich eine ungewohnte, natürliche Wärme, die von meiner Gastschwester und meiner Gastfamilie ausgeht. Ich merke, wie gern sie mich haben, obwohl ich eine total fremde Person in ihrem Land, in ihrem Haus bin. Doch die Gemeinsamkeiten sind es, die Gespräche schaffen. Gemeinsamkeiten, die beweisen, wie ähnlich wir uns untereinander sind und Freundschaften entstehen lassen, die ein Leben lang dauern.
Anna Gläserer, Brixen, im September 2015
Das Projekt “Hallo Ciao Maroc” bietet Jugendlichen aus Südtirol und dem Trentino die Gelegenheit, einen Einblick in die arabische Sprache und das Alltagsleben von Jugendlichen aus Rabat (Marokko) zu erhalten. Es fand dieses Jahr zum fünften Mal statt. Organisiert wird das Projekt vom Land Südtirol in Zusammenarbeit mit der OEW. Informationen gibt es im Amt für Jugendarbeit, die Bewerbungen für 2016 laufen noch bis Ende Oktober. Neben den Eigenleistungen der Jugendlichen gibt es einen finanziellen Beitrag des Landes.
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Vielleicht haben Sie auch nicht an der richtigen Stelle gesucht? Zumindest bin ich froh dass Sie Ihre Vorteile gegenüber Marokko abgebaut haben. Nach Ihren Schilderungen hätte man meinen können Sie erwarten Zustände wie in Saudi Arabien vorzufinden.
Gibt es auch die Möglichkeit dass die Tochter ihrer Gastfamilie nach Südtirol kommen darf ohne männliche Begleitung? Vielleicht kann man hier Unterschiede feststellen.