Politik | Flüchtlinge

"Unsere größte Bewährungsprobe"

Walter Obwexer ist Experte für Europa- und Völkerrecht an der Universität Innsbruck. Im Interview spricht er über die Flüchtlinge, Schengen, Dublin und über die "bisher größte Herausforderung für die EU".

Herr Obwexer, auf welcher gesetzlichen Grundlage dürfen einzelne EU-Mitgliedsstaaten autonom über ihre Grenzen und die Menschen, die sich innerhalb der Grenzen befinden, entscheiden?
Da müssen wir zwei Ebenen unterscheiden. Das eine sind die Grenzen und das andere sind die Menschen im Land. Was die Grenzen anbelangt, ist es in der Europäischen Union aufgrund des so genannten Schengen-Abkommens so, dass es einheitliche Kontrollen an den Außengrenzen geben muss – und zwar strikte und rigide. Aber keine Personenkontrollen an den Binnengrenzen. Das hatten wir auch bislang.

Was hat sich nun geändert?
Dieses Schengener-System sieht vor, dass, wenn es in einem EU-Mitgliedsstaat eine wesentliche Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit gibt, dann darf dieser Mitgliedsstaat vorübergehend und zunächst für dreißig Tage, und allenfalls verlängerbar bis zu sechs Monaten, Grenzkontrollen einführen. Und nachdem Deutschland nach Einladung der Frau Bundeskanzlerin, alle aus Syrien stammenden Flüchtlinge mit Asylstatus auszustatten, überrannt wurde und nicht mehr in der Lage war, nach wenigen Tagen, diese riesige Zahl an Menschen aufzunehmen, war die deutsche öffentliche Sicherheit und Ordnung eindeutig beeinträchtigt. Deutschland musste reagieren und hat dann Grenzkontrollen eingezogen. Weil die Behörden einfach nicht mehr in der Lage waren, selbst bei gutem Willen und vollstem Einsatz diese nicht erwarteten Menschen aufzunehmen zu versorgen und unterzubringen.

Österreich hat bekanntlich nachgezogen.
In Folge der Maßnahmen in Deuschland hat sich in Österreich ein Rückstau gebildet. Österreich musste parallel zu Deutschland vorgehen weil ansonsten die öffentliche Ordnung in Österreich schwerwiegend gefährdet worden wäre oder zum Teil sogar schon war. Man musste dann ebenfalls, zwar nicht rigid, aber doch Grenzkontrollen einführen. Und das ist unionsrechtlich vorübergehend erlaubt.

Wir sind in einer Gemeinschaft drin, in der es auch Solidarität und ein Miteinander gibt. Und da kann man einfach nicht sagen: “Jetzt bin ich nicht mehr dabei.”

Kann nun damit gerechnet werden, dass andere EU-Mitgliedsstaaten in Sachen Grenzkontrollen nachziehen? In Kroatien hat man sich bereits darauf eingestellt, dass viele Flüchtlinge, die derzeit noch in Serbien oder auf der Balkanroute unterwegs sind, versuchen werden, über Kroatien nach Norden zu gelangen.
Wir sehen das schön am Beispiel Österreich. Österreich hat dort die Grenzkontrollen eingeführt, wo es wirklich diesen enormen Zustrom gibt, nämlich an der Ostgrenze bei Nickelsdorf. Aber noch keine an der Brennergrenze – weil es dort noch keine Probleme und keine Störung der öffentlichen Ordnung gibt. Infolge gilt, wenn jetzt in Kroatien, da sich die Flüchtlingsroute aufgrund des Grenzzauns in Ungarn ändert, die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet wird, dann könnte Kroatien genauso Grenzkontrollen einführen. An den Binnengrenzen wohlgemerkt, denn an den EU-Außengrenzen, die Kroatien hat, muss es ohnehin kontrollieren.

Diese Maßnahmen – Grenzkontrollen oder nicht – können die Staaten also autonom treffen?
Ja. Sie müssen es zwar der EU-Kommission und den anderen Mitgliedsstaaten mitteilen, aber ansonsten können sie das zunächst einmal autonom entscheiden.

Zurück zu den Menschen, den Flüchtlingen, die bereits in der EU sind. Es sind viele Stimmen laut geworden, die sagen, das Dublin-System sei gescheitert und es brauche ein neues, gesamteuropäische Asylrechtssystem. Wie sehen Sie das?
Das ist sicherlich richtig. Ich meine, nicht das Dublin-System insgesamt ist gescheitert, aber so, wie man es geregelt hat. Bislang war es so aufgebaut, dass es so lange funktionierte als sich die Flüchtlingsströme in Grenzen hielten. Denn das Dublin-System sieht vor, dass, wenn sich Personen aus Drittstaaten in die EU begeben und geltend machen, dass sie Flüchtlinge sind, jener Mitgliedsstaat den Asylantrag prüfen muss, über dessen Grenze diese Drittstaatsangehörigen das erste Mal eingereist sind. Es sei denn, sie haben Familienangehörige oder ein Visum, dann können sie auch in einem anderen Mitgliedsstaat Asyl beantragen.

Die EU-Außengrenzenstaaten sind aber logischerweise primär von der Flüchtlingsbewegung betroffen und werden in die Verantwortung genommen. Daran hat Dublin nicht gedacht?
In der Vergangenheit war es Griechenland, in den letzten Monaten insbesondere auch Italien und zuletzt dann Ungarn. Diese Länder müssten als Außengrenzenstaaten die Asylanträge prüfen, sind dazu aber nicht in der Lage, aufgrund des aktuellen großen Zustroms. Und dieses Dublin-System sieht eben nicht vor, was passiert, wenn ein EU-Mitgliedsstaat völlig überlaufen wird und nicht mehr in der Lage ist, seiner rechtlichen Verantwortung nachzukommen. Daher muss man und hätte man schon länger müssen dieses Dublin-System anders denken.

Ich würde sogar sagen, dass die EU vor ihrer größten Bewährungsprobe steht, die sie bislang hatte. Da war die Sache mit der Staatsschuldenkrise und Griechenland wesentlich geringer

Inwiefern?
Die Grundidee von Dublin ist ja folgende – einfach formuliert: die EU ist ein einheitlicher Asylraum. Und wenn Schutzsuchende nach Europa, sprich in die EU wollen, dann hat die EU genau geregelt, welcher Staat sie aufnimmt. Inzwischen haben wir aber bei den Flüchtlingen folgende Situation, dass sie sagen, “ich will in die EU, aber nicht nach Ungarn, Portugal oder nach Tschechien, sondern nach Deutschland”. Weil es dort die besten Sozialstandards gibt, die schnellsten Asylverfahren. Die EU wird nicht mehr als einheitlicher Asylraum gesehen, wie Dublin das vorsieht, sondern die Flüchtlinge suchen sich die Mitgliedsstaaten aus.

Das heißt, Dublin war von Grund auf falsch gedacht?
Keinesfalls. Diese Grundidee von einem einheitlichen Asylraum wird bleiben, denn anders geht es nicht. Die EU wird immer nach außen als ein Staat, wenn Sie so wollen, auftreten. Und den Flüchtlingen sagen, ihr bekommt Schutz, aber ich sage, wo. Wir können die EU mit Italien vergleichen: Wenn ich in Italien einreise und Asylstatus bekomme, kann ich auch nicht sagen, “aber nicht in Sizilien, sondern in Südtirol”. Es wird über eine Quotenregel verteilt und ein Flüchtling kann sagen, wo er hin will, sondern er kriegt irgendwo Asyl. Und ähnlich sollte es durch Dublin in der EU sein. Ich kann nicht sagen, “ich will nach Deutschland”, sondern mir wird gesagt, “wenn du Schutz haben willst und dir Schutz zusteht, dann gewähren wir dir Schutz, aber wir EU-Mitgliedsstaaten entscheiden, ob in Portugal, in Spanien, in Polen, in Schweden, in Deutschland oder in Österreich”. Das wird bleiben müssen.

Dasselbe hat Angela Merkel am Dienstag auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem österreichischen Bundeskanzler Werner Faymann erklärt. Salopp gesagt, Asyl sei kein Wunschkonzert, sondern die Flüchtlinge müssen damit rechnen, über die EU verteilt zu werden. Nun hat man aber innerhalb der Union Schwierigkeiten, sich auf einen verpflichtenden Verteilungsschlüssel beziehungsweise auf eine Quote für die einzelnen Länder zu einigen. Wie könnte ein solcher Verteilungsschlüssel ausschauen? Und können Länder gezwungen werden, Flüchtlinge aufzunehmen?
An sich, ja. Deshalb, weil sich alle EU-Mitgliedsstaaten in der EU-Verfassung darauf geeinigt und darin festgeschrieben haben, dass im Bereich der Asylpolitik der Grundsatz der Solidarität, der gerechten Verteilung und der Verantwortlichkeit gilt. Das heißt, die EU-Mitgliedsstaaten sind verfassungsrechtlich verpflichtet, sich an dieser Verantwortung zu beteiligen. Keiner dürfte, wie Polen, Tschechien oder die Slowakei, sagen, “wir sind da nicht dabei”. Es ist nur die Frage, in welcher Höhe sich ein jedes Land beteiligen muss. Und darüber streitet man natürlich. Wird verteilt nach Bruttosozialprodukt, nach Bevölkerung, nach Flüchtlingsanzahl in der Vergangenheit, nach Arbeitslosigkeit?

Jene, die aus wirtschaftlichen Gründen jetzt das offene Fenster genutzt haben, da wird man sagen müssen, “wir sind nicht in der Lage, die alle aufzunehmen”.

Kommenden Dienstag, 22. September, treten die EU-Innenminister erneut zusammen, um über eine Quotenregelung zu diskutieren. Welche Hoffnung setzen Sie in dieses Treffen?
Die EU-Kommission hat bereits eine ganze Reihe von Kriterien festgelegt, um eine möglichst gerechte Verteilung der Flüchtlinge innerhalb der EU zu erreichen. Ich hoffe, dass es rasch gelingt, aber so wie es aussieht, wird sich diese Hoffnung so schnell nicht bewahrheiten.

Neben den EU-Innenministern werden sich auch die Staats- und Regierungschefs der 28 Mitgliedsstaaten voraussichtlich auf einem Sondergipfel treffen, um über weiterreichende Maßnahmen zu beraten, etwa Hilfe für die Herkunftsländer, Bekämpfung der Fluchtursachen und stärkere Zusammenarbeit mit den Staaten im Nahen Osten. Kommt dieser Schritt nicht etwas spät?
Doch. Aber man muss aus der Sicht der Europäischen Union zwischen sofortigen und längerfristigen Maßnahmen unterscheiden. Relativ kurzfristig muss man eine Lösung finden für all jene Menschen, die in die EU wollen und geltend machen, dass sie Schutz brauchen und darauf Anspruch haben – Flüchtlinge, die zu Hause verfolgt werden, aus religiösen Gründen, weil Krieg herrscht, aus rassischen Gründen und anderen. Da wir die Europäische Union handeln müssen. Und wenn sie diese Herausforderung schaffen will, muss sie eine gerechte Quote für alle 28 EU-Mitgliedsstaaten festlegen. Etwas anderes bleibt ihr nicht übrig. Und das muss relativ rasch gehen.

Ich kann nicht sagen, “ich will nach Deutschland”, sondern mir wird gesagt, “wenn du Schutz haben willst und dir Schutz zusteht, dann gewähren wir dir Schutz, aber wir EU-Mitgliedsstaaten entscheiden, wo.”

Kurzfristig braucht es auch Änderungen im Asylrecht?
Man wird einen Weg finden müssen, die Asylverfahren schneller abzuwickeln und zwar in allen EU-Mitgliedsstaaten möglichst gleich. Und jene, die aus wirtschaftlichen Gründen jetzt das offene Fenster genutzt haben, da wird man sagen müssen, “wir sind nicht in der Lage, die alle aufzunehmen”.

Welchen Weg muss die EU auf lange Sicht einschlagen, um künftig Flüchtlingsströme wie die aktuellen einzudämmen, oder gar zu verhindern?
Längerfristig muss man eine ganze Reihe von Maßnahmen setzen. Es geht um die Unterstützung der Flüchtlinge in den Lagern vor Ort. Diese wird man erhöhen müssen. Es geht um die Verbesserung der Entwicklungshilfe, um auch die wirtschaftliche Entwicklung der Staaten, aus denen diese Menschen kommen und glauben, bei uns geht es ihnen besser, langsam voran zu bringen. Doch das kann die EU nicht alleine. Man wird in der UNO schauen müssen, diese Krisenherde langsam Richtung Friedensprozess zu bewegen, um die kriegerischen Auseinandersetzungen so rasch wie möglich zu beenden. Es wird eine ganze Reihe von Maßnahmen geben müssen, doch diese werden erst in Jahren greifen. Jetzt kommt es darauf an, dass die EU mit der Herausforderung – die wohl größte, die sie bislang zu bewältigen hatte — umzugehen weiß.

Man kann durchaus sagen, dass die EU derzeit vor einer Bewährungsprobe steht?
Das kann man ganz sicher sagen. Und ich würde sogar sagen, dass die EU vor ihrer größten Bewährungsprobe steht, die sie bislang hatte. Da war die Sache mit der Staatsschuldenkrise und Griechenland wesentlich geringer. Auch wenn dort viele Milliarden hingeflossen sind, hat es eigentlich kaum Diskussionen darüber gegeben, den Griechen gegenüber unsolidarisch zu sein und zu sagen, “die lassen wir in Konkurs gehen”. Da war immer Kooperation da, wo jetzt bei den Flüchtlingen die Solidarität auf einmal abhanden gekommen scheint. Doch da geht es um Menschen!

Es wird bereits behauptet, die EU durchlebe eine Sinnkrise oder müsse sich gar die Frage nach ihrer Existenzberechtigung stellen, angesichts dessen, dass sie komplett überfordert mit den Flüchtlingen zu sein scheint…
Ich würde nicht sagen, dass der EU ihre Existenzberechtigung abhanden kommt, denn die besteht ja darin, in Europa den Frieden zu sichern. Das hat sie bisher gemacht und wird es auch in Zukunft tun, keine Frage. Aber die Union hat sich in diesem Friedensicherungsprojekt auf gewisse Werte verständigt. Und zu diesen Werten zählt nun einmal die Einhaltung von Menschenrechten und die Solidarität der Staaten untereinander. Letzterer Wert scheint allerdings derzeit von manchen Staaten vergessen worden zu sein. Aus meiner Sicht ist das die Bewährungsprobe, vor der die Union steht: Dass auch die Politiker in den einzelnen EU-Mitgliedsstaaten erkennen, wir sind in einer Gemeinschaft drin, in der es auch Solidarität und ein Miteinander gibt. Und da kann man einfach nicht – auch nicht in schwierigen Situationen – sagen: “Jetzt bin ich nicht mehr dabei.”

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pérvasion So., 20.09.2015 - 17:01

Ich finde das Interview auch beachtlich.

Eine Frage stellt sich mir aber bezüglich folgender Aussage: »Infolge gilt, wenn jetzt in Kroatien, da sich die Flüchtlingsroute aufgrund des Grenzzauns in Ungarn ändert, die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet wird, dann könnte Kroatien genauso Grenzkontrollen einführen. An den Binnengrenzen wohlgemerkt, denn an den EU-Außengrenzen, die Kroatien hat, muss es ohnehin kontrollieren.« Soweit ich das überblicke, hat Kroatien Binnengrenzen zu Ungarn, Italien und Slowenien — was sollen dort die Grenzkontrollen bringen?

So., 20.09.2015 - 17:01 Permalink