„Familienpolitik verschlafen“
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Derzeit wird in Rom das Haushaltsgesetz für das nächste Jahr ausgehandelt. Der Entwurf der Regierung unter Giorgia Meloni umfasst ein Paket von 24 Milliarden Euro, kaum eine Milliarde davon sind für die Familienpolitik vorgesehen. „Die vorgesehenen Maßnahmen“, erklärt SVP-Senatorin Julia Unterberger, „reichen sicher nicht aus, um die von der Regierung viel zitierte Trendwende bei der Frauenerwerbstätigkeit und der Geburtenrate zu erreichen.“
Frauenförderung endet dann, sobald sie Mütter werden.
Christa Ladurner von der Südtiroler Allianz für Familie und Romy Brugger von der Südtiroler Plattform für Alleinerziehende EO sehen das ähnlich. Zu der Allianz für Familie zählen verschiedenste Südtiroler Organisationen, welche die Förderung von Familienanliegen zu ihrem Kerngeschäft zählen, darunter auch die Plattform für Alleinerziehende.
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„Frauenförderung endet dann, sobald sie Mütter werden“, erklärt Brugger im Gespräch mit SALTO. Laut Daten der Gleichstellungsrätin haben im Jahr 2021 alleine in Südtirol 1.100 Eltern wegen der Geburt ihres Kindes ihren Arbeitsplatz gekündigt, 884 davon waren Frauen. Durch die hohen Lebenshaltungskosten müssten in vielen Familien dennoch beide Eltern einer Lohnarbeit nachgehen. „Heute wachsen die Kinder in unserer Gesellschaft häufig fremdbestimmt auf. Dass ihnen ihre Eltern Wurzeln und Flügel geben, kann nicht immer gewährleistet werden“, berichtet Brugger aus langjähriger Erfahrung.
„Die Reihe kleiner Maßnahmen unter Meloni kann meines Erachtens keine Trendumkehr bewirken. Im Vergleich zu anderen EU-Ländern gibt Italien nur einen sehr kleinen Teil seines Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Familienpolitik aus“, sagt Ladurner. Dass sowohl die Erwerbstätigkeit von Frauen als auch die Geburtenrate auf nationaler Ebene gering sind, sei daher keine Überraschung.
„Für eine ordentliche Familienpolitik muss Geld in die Hand genommen werden, es gibt sie nicht zum Nulltarif. Sie muss verlässlich sein – unabhängig von der individuellen Familienform, das ist in Italien nicht gegeben“, erklären Ladurner und Brugger. Aktuell müssen beispielsweise nicht verheiratete Eltern bei einer Trennung hohe Anwaltskosten in Kauf nehmen, um mit einem offiziellen Trennungsbescheid das volle Ausmaß des staatlichen Familiengelds zu erhalten. „Das ist makaber“, sagt Brugger.
Laut einer OECD-Studie aus dem Jahr 2019 investiere Italien zwar traditionell bei den Kindergärten, aber nicht bei den Tagesstätten für Kleinkinder unter drei Jahren (Kitas). Außerdem fehle die Rentenabsicherung auf nationaler Ebene, in Südtirol gibt es eine freiwillige rentenmäßige Absicherung für Erziehungszeiten. Wer ein Kind erwartet, dem empfiehlt die Allianz für Familie einen Beratungstermin beim Patronat, um sich für die eigene Situation finanziell bestmöglich abzusichern.
Fehlende Anreize„Menschen, die sich entscheiden ihre Kinder selbst zu betreuen, haben keine Rentenabsicherung. Immer mehr Frauen kündigen ihren Job, nachdem die freiwillige Elternzeit von zehn Monaten ausgelaufen ist, und beziehen dann Arbeitslosengeld. Südtirol gleicht diesen Umstand durch Landesförderungen ein wenig aus, aber es kann noch mehr getan werden“, sagt Ladurner. In Schweden gilt beispielsweise eine Elternzeit von eineinhalb Jahren, damit sei eine echte Wahlfreiheit gegeben, in die Arbeitswelt zurückzukehren oder bei dem Kind zu bleiben.
Die beiden Interessensvertreterinnen fordern, die Elternzeit auszuweiten und finanziell besser abzusichern. Statt Arbeitslosen-Unterstützung für Mütter und Väter, die sich um die Kinder kümmern, brauche es mehr Rechte auf Freistellungen und Elterngeld. Gleichzeitig müsse die rentenmäßige Absicherung für Pflege- und Erziehungsarbeit dringend verbessert werden. „Die Arbeitslosen-Unterstützung ist hier der falsche Weg“, sagt Ladurner.
Dabei müsse klar sein, dass das Familienleben auch politische Relevanz habe – trotz privater Intimität. „Italien hat es verschlafen, eine zeitgerechte Familienpolitik zu betreiben, weil davon ausgegangen wurde, dass familiäre Angelegenheiten nur die Familie selbst angehen. Die Familiensysteme haben auch lange gehalten, heute vergreist Italien aber“, so Ladurner von der Allianz für Familie.
Sorgearbeit muss für die Rente zählen.
Im Vergleich zu anderen Ländern sei der demografische Wandel in Italien akuter und es stelle sich die Frage, wer die alten Menschen versorgen und ihre Rente finanzieren soll. „Dieses Problem ist nicht zu unterschätzen, die Demograf*innen weisen bereits seit über zehn Jahren darauf hin“, so Ladurner.
Der demografische Wandel verschärfe sich durch eine unzureichende Familienpolitik, da die wenigen jungen Menschen noch weniger gewillt sind, Kinder zu kriegen. Wesentliche Ursache davon sei der Umstand, dass das politische Geschehen in Parteien, aber auch bei Gewerkschaften, männlich geprägt ist. „In Italien geht ein Großteil der Sozialabgaben in die Renten“, so Ladurner. „Die meisten Frauen entscheiden sich erst im Alter von mehr als 30 Jahren schwanger zu werden, die Fruchtbarkeit sinkt allerdings mit steigendem Alter.“
Außerdem wandern heute viele junge und gut ausgebildete Italiener*innen aus, das betrifft auch Südtirol. „Von 10 deutschsprachigen Südtiroler Studierenden, die im Ausland studieren, kehren nur zwei nach Italien zurück“, teilte SVP-Senatorin Unterberger kürzlich mit. Familien mit Migrationshintergrund verzeichnen währenddessen höhere Geburtenraten in Italien. „Sobald sie integriert sind, sinkt aber auch bei ihnen die Geburtenrate. Den demografischen Wandel durch Migration auszugleichen, ist daher nicht durchdacht“, so Ladurner.
Lage in SüdtirolTrotz zusätzlichen Familienleistungen des Landes sinkt seit kurzem auch hier die Geburtenrate. „Südtirol kann die Betreuungszeiten von Schulen, Kindergärten und Kitas erweitern. Bei der Rentenabsicherung auf nationaler Ebene fehlt dem Land aber die Zuständigkeit, hier muss es die Aufgabe der Südtiroler Abgeordneten sein, das derzeit an Eltern ausgezahlte Arbeitslosengeld in Elterngeld und Rentenbeiträge umzuwandeln“, sagt Ladurner. „Sorgearbeit muss für die Rente zählen.“
Brugger fügt hinzu: „Wir hören als Verein oft, dass die Verwaltung bei der Unterstützung von Familien nur begrenzt eingreifen kann. Über die Beiträge und Rentenabgaben entscheidet am Ende die Politik, es braucht mehr als Almosen.“ Vor allem Alleinerziehende, kinderreiche Familien oder Familien mit Migrationshintergrund haben Schwierigkeiten, ihren Alltag zu bewältigen.
AusblickGing es im 19. und 20. Jahrhundert bei der Frauenrechtsbewegung noch um das Recht auf Erwerbstätigkeit, scheint es heute mehr um das „Wie“ zu gehen, sprich um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie für alle Eltern. „Weniger ist mehr. Die Menschen wollen weniger arbeiten, der Trend geht in Richtung Vier-Tage-Woche – nicht nur aus familiären Gründen. Zudem würde es den Familien guttun, wenn Eltern wieder mehr Zeit haben, ein gesundes Essen zu kochen und sich mit ihren Kindern zu beschäftigen. Wenn es den Familien gut geht, wird damit eine Basis für eine gesunde Gesellschaft geschaffen. Es geht nicht darum, die Erwerbsarbeit zu erhöhen, sondern wir müssen in die Qualität investieren“, sagt Brugger.
„Wir leben in einer vielfältigen Gesellschaft. Es gibt Menschen, die gerne leistungsstark sind, sie sind gut ausgebildet und wollen sich in der Arbeit weiterentwickeln. Andere verbringen lieber mehr Zeit zuhause mit ihrer Familie. Ich denke, dass es für verschiedene Lebensmodelle Platz geben muss. Besonders Frauen muss es freistehen, auch als Mütter arbeiten gehen zu können. Zudem gibt es immer wieder schwierige Familiensituationen, wo es für Eltern und Kinder eine Entlastung ist, wenn Einrichtungen und Betreuungsangebote zur Verfügung stehen“, fügt Ladurner hinzu.
Geschlechterrollen brechen zunehmend auf und verschiedene Kulturen vermischen sich: „Es bewegt sich gerade viel. Dabei versuchen wir als Allianz für Familie in Zusammenarbeit mit anderen Organisationen wie dem Südtiroler Jugendring die Sorgearbeit in unserer Gesellschaft sichtbar zu machen“, sagt Ladurner.
Gemeinsam mit der Gemeinde Bozen und dem Jugendring hat die Allianz für Familie eine Veranstaltungsreihe zu Wirtschaft und Care organisiert, die erste Veranstaltung fand vergangene Woche statt, der nächste Termin ist am 22. Februar. Ladurner erklärt: „Wirtschaft bedeutet nicht nur, dass Geld hin- und hergeschoben wird, sondern beinhaltet auch unbezahlte Sorgearbeit. Diese Tätigkeiten sind so wichtig für das Überleben der Menschheit, denn ohne die Sorgearbeit kann kein Kind überleben und kein alter Mensch versorgt werden. Deshalb wollen wir mit der Veranstaltungsreihe den Diskurs öffnen, um über die Breite von Wirtschaft zu diskutieren.“
Sorgearbeit erklärtDer Begriff Sorgearbeit (oder Care) beschreibt laut der deutschen Bundeszentrale für politische Bildung die Tätigkeiten des Sorgens und Sichkümmerns. Darunter fällt Kinderbetreuung oder Altenpflege, aber auch familiäre Unterstützung, häusliche Pflege oder Hilfe unter Freund*innen. Bislang wurden diese Arbeiten überwiegend von Frauen geleistet, oft als unbezahlte Hausarbeit. Mit dem Wandel der Geschlechterordnung werden auch Hausarbeit, Sorge und Fürsorge neu verteilt – weiterhin überwiegend zwischen Frauen. Migrantinnen aus armen Ländern bedienen die steigende Nachfrage in Ländern des globalen Nordens.
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"Es gibt Menschen, die gerne…
"Es gibt Menschen, die gerne leistungsstark sind, sie sind gut ausgebildet und wollen sich in der Arbeit weiterentwickeln. Andere verbringen lieber mehr Zeit zuhause mit ihrer Familie. Ich denke, dass es für verschiedene Lebensmodelle Platz geben muss."
Richtig. Leistungsstark sind aber auch die, die zu Hause bleiben.
Sind beide Eltern erwerbstätig, sind sie (durch Arbeitgeber) und die Kinder (Kita, Kindermädchen ...) fremdbestimmt. Wollen wir das? Erwerbstätigkeit ist wichtig, aber wenn wir alles der Erwerbstätigkeit unterordnen, wird es bald keine Familien geschweige denn Kinder mehr geben. Kinder brauchen die Zuwendung der Eltern, die Eltern brauchen die Zeit dafür. Nicht zuletzt brauchen Paare Zeit für die Pflege ihrer Beziehung. Die niedrige Geburtenrate und die hohe Trennungs- und Scheidungsrate sprechen Bände. Alles in allem düstere Aussichten.