Politik | Regierungskrise

Koalitionsvertrag ohne Regierung

Nach 75 Tagen ist keine Regierung in Sicht. Berlusconi droht Salvini mit dem Ende der Allianz.
M5S-Lega
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75 Tage nach der Wahl ist noch immer keine Regierung in Sicht. Lega und Fünfsterne-Bewegung haben sich endlich auf einen Koalitionsvertrag geeinigt, nicht aber auf eine Ministerliste. Dass in der Rohfassung der Austritt Italiens aus dem Euro und ein Schuldennachlass vorgesehen war, sorgte in der Europäischen Union für beträchtliche Aufregung, liess die Börsenkurse fallen und den spread steigen. Der stets vollmundige Lega-Ökonom Claudio Borghi sorgte mit seiner Forderung nach Verstaatlichung des Monte dei Paschi dafür, dass die Kurse der Bank um 12 Prozent  nach unten sackten.  Nach Berechnungen von Ökonomen fehlt für etliche  Reformen die finanzielle Deckung, etwa bei der Flat tax und dem reddito di cittadinanza.

Der auf die Analyse öffentlicher Ausgaben spezialisierte Ökonom Carlo Cottarelli schätzt den Fehlbetrag auf mindestens 108 Milliarden Euro.

Er zeigt sich angesichts des gigantischen Schuldenbergs Italiens skeptisch:  "Non conosco un paese che sia riuscito a ridurre il rapporto tra debito pubblico in modo significativo facendo più deficit." Indessen hat das Fussvolk der Bewegung  über das Regierungsprogramm abgestimmt und es mit einer Mehrheit von 94 Prozent gefürwortet Die Lega dagegen hat eine unnütze Abstimmung anberaumt. In rund 1000  auf öffentlichen Plätzen aufgestellten Zelten können Bürger und Passanten über das Koalitionspapier abstimmen - unabhängig von ihrer politischen Überzeugung.

Die Interessen beider Regierungsparteien und ihrer Wähler sind keineswegs deckungsgleich. Während die Grillini auf bürgernahe Massnahmen setzen, geht es den leghisti vor allem um Eindämmung der Immigration und die Bekämpfung der Kriminalität. Viele Lega-Wähler wiederum teilen nicht die Forderung des M5S, Steuerhinterziehung mit Gefängnis zu bestrafen und Interessenkonflikte rigoros zu ahnden.
 
Silvio Berlusconi hat am Freitag die wachsende Distanz zum Bündnispartner Salvini betont und mit Gegenstimme im Parlament gedroht: "Misure troppo giustizialiste. Salvini sta parlando a nome suo e della Lega: c’è molto distanza tra noi e lui». An diesem Konflikt droht nun auch das  Bündnis zu scheitern. Berlusconi hat Staatspräsident Mattarella angeboten, das Amt des Regierungschefs zu übernehmen. Der Auftrag müsse an das Rechtsbündnis gehen. Das römische Szenario scheint für Berlusconi und die Rechtspartei Fratelli d'Italia  durchaus bedrohlich.
Denn die unorthodoxe Regierungskoalition könnte könnte schon bald auch bei Regional- und Gemeindewahlen antreten. Allein in diesem Jahr sind 8 Millionen Italiener zu lokalen Wahlen aufgerufen.
 
Die Hemdsärmeligkeit, mit der die Fünf-Sterne-Bewegung in diesen Wochen vorgegangen ist, wirkte oft irritierend. Fast täglich kamen neue Namen auf den Tisch und wurden wieder fallen gelassen. Besonders rätselhaft der Fall des Ökonomen Giulio Sapelli. Der international bekannte Universitätsprofessor und Autor von 40 Büchern wurde von der Fünfsterne-Bewegung kontaktiert und traf sich in einem Mailänder Restaurant mit Di Maio und Salvini. Auf die Frage, ob er bereit sei, das Amt des Regierungschefs zu übernehmen, bejahte er. "Poi non ho più sentito nulla." Dabei wäre Sapelli auch international ein ideales Aushängeschild für die Regierung gewesen. Hemdsärmelig fiel auch die Entscheidung über die Hochgeschwindigkeitsstrecke Turin-Lyon aus. Das Projekt wurde kurzerhand gestrichen und nach zwei Tagen  darauf wieder ins Programm genommen, nachdem bekannt geworden war, dass bei Annullierung zwei Millarden Euro fällig wären. Das Thema Süditalien fehlt im Koalitionsvertrag völlig. Indessen hat sich der von der Fünf-Sterne-Bewegung vorgesehenen Arbeitsminister Pasquale Tridico zurückgezogen. "Sul lavoro non c'è nulla e quel che c'è è assolutamente peggiorativo", erklärte der in Bologna lehrende Ökonom.

Es ist bekannt, dass der ehrgeizige Luigi Di Maio das Amt des Premiers selbst übernehmen will.  Staatspräsident Mattarella, der dem Treiben mit wachsendem Unbehagen zusieht, dürfte diesen Wunsch kaum erfüllen.  Zu den aussichtsreichsten Anwärtern auf das Amt des Regierungschefs gehören die Ökonomen Giuseppe Conte und Andrea Roventini.