Chronik | Stichwahl in Rom

Wie unregierbar ist Italiens Hauptstadt ?

Die 37-jährige Virginia Raggi von der Fünfsterne-Bewegung gilt als klare Favoritin für das Amt der Bürgermeisterin in der korruptionsverseuchten Hauptstadt Rom.

Roma, caput mundi. Die Schönheit dieser Stadt erschließt sich vor allem Frühaufstehern. Dann taucht die aufgehende Sonne die Metropole mit ihren unzähligen Kuppeln in mildes, rosafarbenes Licht. Vom Pincio-Hügel reicht die Sicht über die Piazza del Popolo zum Petersdom und weit hinaus bis zu den gesichtslosen Peripherien der Drei-Millionen-Stadt. Vom Giardino degli aranci am Aventin genießt man einen von ungewohnter Stille geprägten Blick auf den träg dahinfließenden Tiber. Um diese Stunde wird auch der Abstieg vom Gianicolo nach Trastevere zum suggestiven Spaziergang mit Blick auf den von Touristen ignorierten orto botanico. Denn im Morgengrauen fehlt fast alles, was diese Stadt zur täglichen Hölle macht: das lärmende Verkehrsgewühl, der tägliche Stau, das Dauergehupe, die Abgase, die gestikulierenden Polizisten, die allgegenwärtigen Wanderhändler, die Turistenbusse, die illegalen Fremdenführer und das Heer der Taschendiebe. Dann wirkt Rom mit seinen Relikten ehemaliger Opulenz wie ein gigantisches, von unablässigen Verkehrsströmen durchflutetes Monument ausgehöhlter Selbstherrlichkeit.

In keiner anderen Metropole mischen sich Fiktion und Wirklichkeit so irritierend und ambivalent wie im vielfach preisgekrönten Film "La Grande bellezza": ausufernder Luxus und allgegenwärtige Obdachlosigkeit, antike Macht und bröckelnder Beton,  damastbespannte Vatikan-Gemächer und Pizza-Ketten in Mafia-Hand.

Längst gilt Italiens korruptionsverseuchte Hauptstadt als unregierbar, als Hort ausufernder Misswirtschaft und anachronistischer Bürokratie, in der die Kriminalität ebenso rasch wächst wie die Zahl der Obdachlosen.  Die 37-jährige Anwältin Virginia Raggi von der Fünfsterne-Bewegung will nun beweisen, dass die chaotische Metropole durchaus regierbar ist. Eine Art  Quadratur des Kreises. Beharrlich und scheinbar furchtlos peilt sie Italiens gnadenlosestes politisches Amt an - Bürgermeisterin einer Kapitale, die unter einem Schuldenberg von 13,5 Milliarden Euro ächzt und 62.000 Bedienstete auf ihren Gehaltslisten führt - das Doppelte des Fiat-Konzerns in Italien.

Die drei städtischen Beteiligungsgesellschaften gelten als gefrässige, ineffiziente Kolosse: vor allem der Verkehrsbetrieb Atac und die Müllgesellschaft AMA sind seit Jahren Schauplätze parteipolitischer Klientelwirtschaft aller Couleurs. Der Verkehrsverbund hat 12.000 Bedienstete, 1,8 Milliarden Schulden, 1980 Busse, die im Durchnitt zehn Jahre alt  und von denen 550 reparaturbedürftig sind. 11 vielfach parasitäre Gewerkschaften kontrollieren den Verkehrsbetrieb und haben sich jährlich 110.000 Stunden gewerkschaftlicher Freistellung erstritten - ein Millionenverlust. Seit 42 Jahren betreiben ebendiese Gewerkschaften im "dopolavoro aziendale" alle Atac-Ausspeisungen und Freizeiteinrichtungen wie ein Strandbad in Ostia. Wieviele Essen täglich in der Mensa ausgegeben werden, ist schlichtweg unbekannt. 1400 Bedienstete melden sich  täglich krank. Für viele ist Atac nur der zweite Arbeitsplatz. Als dem UGL-Chef Fabio Milloch letzthin wegen ungerechtfertigter Freistellungen von 1861 Stunden die Zahlung des Gehalts verweigert wurde, reagierte seine Gewerkschaft demonstrativ mit einem provokanten Streik während des italienischen Eröffnungsspiels der Fußball-EM.  Die Trennungslinie zu kriminellen Aktivitäten erscheint als Grauzone. Was nicht niet-und nagelfest ist, verschwindet. Seit der neue Generaldirektor Marco Rettinghieri Kameras an den Ausgängen anbringen ließ, ist der Reifenverbrauch um zwei Drittel gesunken. Dass er alle verdächtigen Unterlagen der Staatsanwaltschaft übermittelte, brachte ihm den Zorn der Gewerkschaften ein. Viereinhalb Milliarden Euro hat Atac in den letzten fünf Jahren verheizt, wofür, lässt sich im Detail nicht genau nachprüfen.
Ein Drittel der römischen Passagiere benützt Busse und Straßenbahnen ohne gültige Fahrkarte. Deren Verkauf deckt nur 29 Prozent der Kosten. Nach Schätzung von Experten gehen bei der Wahl in Rom rund 70.000 Vorzugsstimmen auf das Konto von Atac-Bediensteten, Gewerkschaften und Verwandten. Die 6000 Stadtpolizisten gelten in der Haupstadt als weitere mächtige Lobby.


Permanenter Müllnotstand

Bei der römischen Müllabfuhr sieht es freilich kaum besser aus. Jeder Römer produziert eine Rekordmenge von 690 Kilo Müll. Doch die Stadt verfügt weder über eine Deponie noch über eine Verbrennungsanlage. Für zehn Millionen Euro pro Jahr karrt sie ihren Abfall nach Norditalien zur Verbrennung. Der am Kartell der Mafia capitale beteiilgte Chef des Müllbetriebs AMA, Franco Panzironi wurde verhaftet. Er hatte ein Jahresgehalt von 550.000 Euro bezogen. Eine Mülltrennung, die diesen Namen verdienen würde, gibt es in Rom kaum. Die illegalen Müllkippen in der Peripherie lassen sich nicht mehr zählen. Alte Eisschränke werden nachts an den Ausfallstrassen einfach über die Böschung gekippt. In der Stadt macht sich eine rasant gestiegene Zahl von Ratten und Möwen die vor den Häusern abgestellten Müllsäcke streitig.


Tägliches Verkehrschaos

Rom glänzt bei 978 Fahrzeugen auf 1000 Einwohner mit der höchsten Verkehrsdichte aller europäischen Hauptstädte - das dreifache Londons. Mit 41 km U-Bahn rangiert Rom hingegen weit hinter Bukarest. Obwohl 250.000 Wohnungen  leer stehen, fressen sich unentwegt hässliche Wohnblöcke in den Grüngürtel der Stadt. In den rund 60.000 öffentlichen Wohnungen bezahlt ein Großteil der Mieter weniger als zehn Euro im Monat. Tausende sind säumig, rund 5000 Wohnungen sind illegal besetzt. Auch für große Wohnungen und Geschäftslokale in attraktiver Lage fordert die Stadt lächerlich anmutende Mieten.
In der Gemeindeverwaltung sind Ineffizienz und Schlendrian sprichwörtlich, die Korruption allgegenwärtig. Sogar den gemeindeeigenen Apotheken mit ihren 362 Bediensteten gelingt in Rom  das Kunststück, ein jährliches Defizit von 15 Millionen Euro zu erwirtschaften.
Für die Römer sieht die Rangliste der Probleme etwas anders aus. Weitaus an erster Stelle liegen die unzähigen Schlaglöcher
in den Straßen der Haupstadt, die jährlich zu über 2000 teilweise schweren Unfällen führen, von denen vor allem Motorräder betroffen sind. Fast alle Opfer klagen die Stadt auf Schadenersatz.  Auf der Prioritätsliste stehen vor allem in den peripheren Stadtvierteln die unzulängliche Strassenbeleuchtung, die ineffiziente Müllabfuhr,  die Verspätung der städtischen Busse und der teilweise miserable Zustand der Schulen und Kindergärten.


Wachsende Armut und schillernder Reichtum

Die Verwahrlosung der Stadt scheint freilich unaufhaltsam. Nur an der Touristenmeile zwischen Vatikan und Kolosseum fällt sie kaum auf. Das Durchschnittseinkommen ist in der Hauptstadt in fünf Jahren um 15 Prozent gesunken, die Jugendarbeitslosigkeit auf 45 Prozent gestiegen. Wachsende Armut paart sich in der Metropole mit schillerndem Reichtum. Dem Glanz der privaten Palazzi und Luxushotels steht die Verwahrlosung öffentlichen Besitzes entgegen. Antike Stätten bröckeln, öffentliche Parks sind zu Zeltlagern degradiert. Die Infrastruktur der Ewigen Stadt funktioniert schlechter als in der Regierungszeit des Augustus, als in Rom bereits eine Million Menschen lebten. Ihren Plan, das Mausoleum des glanzvollen römischen Kaisers zu dessen 2000. Todestag zu eröffnen, musste die Stadt wegen gewohnter Ineffizienz aufgeben.
Das seit 80 Jahren geschlossene, grösste Rundgrab der Welt wird erst 2017 zugänglich sein. Die Metropole, die sich einst mit dem stolzen Beinamen caput mundi schmückte, lebt von der Vergangenheit und verschläft ihre Zukunft.
Um die will sich jetzt Virginia Raggi kümmern. Was anderen schlaflose Nächte bereiten würde, sieht die 37-jährige als persönliche Herausforderung: "L'idea di governare Roma non mi fa paura."

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Josef Ruffa Sa., 18.06.2016 - 13:02

Eine Hauptstadt dürfte so nicht ausschauen, schliesslich ist sie Visitenkarte für ein Land.
Diese Stadt verdient den Titel nicht, es wäre an der Zeit Titel und Ämter zu nehmen und das Ganze nach Norditalien zu verlegen.

Sa., 18.06.2016 - 13:02 Permalink