Gesellschaft | Schule

Ganztag - Lösung des Inklusionsproblems?

Ganztagsschulen – das klingt nach endlosem Unterricht, müden Kindern und überfordertem Lehrpersonal. Doch so muss es nicht sein. AFI-Mitarbeiterin Aline Lupa diskutiert ihr Potential für Südtirols Inklusionsproblem.
Hinweis: Dies ist ein Partner-Artikel und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.
Scuola integrazione
Foto: Yankrukov - Pexels
  • In Deutschland wird aktuell diskutiert, wie der ab 2026 geltende Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung umgesetzt werden soll – und damit auch die Frage, wie dieses Konzept dazu genutzt werden kann, den Schulalltag zu revolutionieren. Das Potenzial für Schüler:innen ist groß, aber es gibt auch jede Menge Herausforderungen bei der Umsetzung

    In Südtirol wächst die Nachfrage nach Ganztagsangeboten nicht nur, damit Eltern den Spagat zwischen Beruf und Familie schaffen können, sondern auch aufgrund der aktuellen Debatte um das scheinbar nicht zu bewältigende Inklusionsproblem

  • Der Schlüssel liegt in der Qualität

    Studien aus Deutschland belegen, dass Ganztagsmodelle Bildungsverläufe stabilisieren und langfristig Schulleistungen verbessern können. Insbesondere bei Kindern, die über einen längeren Zeitraum hinweg an qualitativ hochwertigen Ganztagsangeboten teilnehmen, konnte vor allem auch ein positiver Effekt auf das Sozialverhalten festgestellt werden, da Ganztagsschulen die Möglichkeit bieten, interkulturelle Aktivitäten zu fördern und ein positives Miteinander zu stärken. 

    Entscheidend ist, Situationen für die Anerkennung des Konzepts sowohl bei Kindern als bei Eltern zu schaffen. Spezifische Programme, die auf die Autonomie und Mitbestimmung der Einzelnen setzen, können eine dauerhafte intensive Teilnahme gewährleisten, weil sie es schaffen, die Schüler:innen zu motivieren und zu begeistern. Die Kinder werden so als Individuen in die Prozesse des Schulalltags eingebunden.

    Doch es hapert an der Umsetzung…

    Obwohl es in Deutschland bereits einen langjährigen Aufbau von Ganztag gibt, könnte die Implementierung aufgrund unklarer Konzepte, mangelnder Beratung und fehlendem Personal scheitern. Die Schulen sind mit der praktischen Umsetzung überfordert. Sie fordern, dass der Rechtsanspruch im Hinblick auf die Rhythmisierung von Ganztag eindeutiger gestaltet wird.  

    Ganztag muss als ein Zusammenfließen von Bildung und Betreuung begriffen werden, was zwangsläufig ein Kooperationsvorhaben von Schule und außerschulischen Einrichtungen voraussetzt. Dafür braucht es klare Rahmenpläne sowie Qualitätsdialoge. Auch ein verpflichtendes Kooperationsgebot zwischen formellen und informellen Akteuren ist im Gespräch. 

    Kind- und sozialraumorientierte Ganztagskonzepte, statt standardisierte Schulentwicklung

    Ganztag – gedacht als Neugestaltung und Transformation der Bildung – benötigt räumliche und zeitliche Umstrukturierungen. Wie dies gelingen kann, zeigt das Projekt „Ganztag und Raum“ der Stiftung Montag Jugend und Gesellschaft, bei dem ein Ineinandergreifen von Organisation, Pädagogik und Raum mit allen Beteiligten aus Schule, Verwaltung, Jugendhilfe und Schulaufsicht neu konzipiert wird. Indem Unterricht und Betreuung nicht mehr räumlich getrennt werden, werden vorhandene Räumlichkeiten besser genutzt. Auch das Potenzial, das in der Zusammenarbeit von multiprofessionellen Teams und der Verbindung formaler und informeller Bildungsangebote liegt, soll auf diese Weise ausgeschöpft werden. Die Qualität des Projekts liegt somit darin, Schule als Sozialraum gemeinschaftlich verständlich zu machen, der eine ganztätige Bildung vorsieht. 

    Ganztagsschulen in Südtirol: Wo stehen wir?

    Das Thema wird auch hierzulande schon länger diskutiert. Bereits 2016 forderte Beate Weyland von der Freien Universität Bozen den Umbau der Schulen in „Bildungshäuser“. Eine schöne Idee, aber warum hat sich bis jetzt so wenig getan?

    Gesetze wie die italienische Schulreform „La buona scuola“ (Gesetz 107/2015) haben theoretisch den Weg geebnet. Dieses Gesetz gibt den Schulen mehr finanzielle Mittel und räumt den Regionen Spielräume ein – und Südtirol kann diese dank seiner Autonomie auch flexibel nutzen. Aber in der Praxis geht es schleppend voran. Es gibt nur wenige Ganztagsschulen und von einer flächendeckenden Umsetzung sind wir weit entfernt.

    Für ein konkretes Konzept fehlen Südtirol die Kapazitäten 

    Bevor in Südtirol an „Ganztag für alle“ zu denken ist, müssen  Fragen zu Bildungsinhalt, Steuerung und Ressourcen geklärt werden. 

    Welche Lernkultur möchten wir verfolgen und welche Rolle spielen dabei die Themen Lebensweltorientierung, kulturelle Bildung und Sprachgruppenintegration? 

    Wie ist die Beteiligung verschiedener Akteure und Sozialpartner im Bildungssystem und wie steht es um die Feedbackkultur in Bildungscommunties?

    Kommen wir auf den Personalmangel zu sprechen, wird klar, dass sich Lehrkräfte kaum noch in der Lage sehen, der Vielfalt an heute vertretenen Sprachgruppen gerecht werden. Die Aufgabenbereiche weiten sich stetig aus, ohne dass es eine Umverteilung gibt. Mehr Präsenzstunden, unzählige Sitzungen, ein nicht angemessenes Gehalt sowie die fehlende Wertschätzung von ausgebildeten Fachkräften machen den Beruf immer unattraktiver.

    Kulturelle Vielfalt als Chance, nicht als Problem 

    Der gerade neu angefeuerte Diskurs über Inklusion lässt die Vorstellung, dass ein landesweites und sogar gesetzlich geregeltes Ganztagskonzept auch in Südtirol möglich wäre, ganz schnell verpuffen und macht deutlich, dass die Klärung bestehender Konflikte von den Verantwortlichen nicht ausreichend im Kontext lösungsorientierter Innovationen betrachtet wird. Mit standardisierter Schulentwicklung kommt man nicht weiter in der Inklusionsdebatte. 

    Zu welchen Mitteln manche Schulen bereit sind zurückzugreifen – sei es aus Verzweiflung oder aufgrund falscher Vorstellung davon, was Inklusion bedeutet – hat jüngst der gescheiterte Vorstoß der Bozner Goethe-Schule gezeigt.

    Im Zentrum des aktuellen Diskurses scheinen Inklusion und Integration immer wieder problematisiert zu werden, anstatt kulturelle Vielfalt als Potenzial zu sehen, das wir mithilfe eines angemessenen Konzepts ausschöpfen müssen. Wann werden Südtirols Schulen endlich als Orte behandelt, in denen sich Sprachgruppenintegration und der Erhalt der Sprachenvielfalt nicht gegenseitig ausschließen müssen? Was wirklich wichtig sein sollte, nämlich Trennungen zu überwinden und gemeinsame Erfahrungsräume für Kinder zu schaffen, scheint nach wie vor auf der Strecke zu bleiben. 

    In Deutschland zeigt sich, dass Ganztagsschulen vor allem in Schulen mit hohem Ausländeranteil und Kindern aus sozioökonomisch benachteiligten Familien notwendig sind, da sie eine Art inklusives Familienzentrum darstellen können, wo auch Eltern in kulturelle Lernprozesse eingebunden werden. 

    In Südtirol, wo immer mehr Kinder unterschiedlichster Herkunft in den Schulalltag zu integrieren und Sprachbarrieren abzubauen sind, ist es allerhöchste Zeit, dass ein funktionierendes System inklusiver Schule entwickelt wird. Kind- und sozialraumorientiert Ganztagsmodelle, in denen pädagogische Personen verschiedenster Hintergründe zusammenarbeiten, sollten deshalb umso mehr als Chance begriffen werden, um Schule neu zu denken und zu leben.