Durchgriffsrechte für wen?
Du sagst, was du denkst und der sportliche Stil dabei gefällt mir. Er macht mich an die Haltung der Art von Furchtlosigkeit denken, die ich aus eigener Erfahrung im Notfallbereich kenne und die dort eine wunderbare Ressource ist. Da ich mich in der Initiative für mehr Demokratie engagiere, fordern mich natürlich deine Überlegungen zur Demokratie zu einem Kommentar heraus. Und ich mach ihn, wie du, in sportlichem Stil, das heißt, mit Sicherheit ist nicht jede Zeile gerecht.
Bezogen auf die Pandemie und die entsprechenden politischen Maßnahmen meinst du, „dass unsere hochgelobte Demokratie offensichtlich nicht der Weisheit letzter Schluss ist“, da sie den Politikern nicht das in dieser Krise nötige „zeitlich begrenzte Durchgriffsrecht gegenüber all dem Geschrei über Grundrechte, Freiheiten usw.“ ermöglicht. Deshalb würden wir diese Krise nie bewältigen können.
Mich überrascht dieses „Geschrei“ nicht. Wie können wir ernsthaft erwarten, plötzlich eine große Mehrheit an BürgerInnen vorzufinden, die wissen, was es heißt, Verantwortung für das Gemeinwohl zu übernehmen und in der Lage sind, sich aktiv an der Aushandlung widerstreitender Interessen zu beteiligen? Wann bitte, hätten wir dies lernen sollen? Wurde und wird nicht seit Jahrzehnten von der Politik systematisch verhindert, dass gut anwendbare Mitsprache- und Mitbestimmungsrechte eingeführt werden und die BürgerInnen den Umgang damit praktizieren können und eine mündige Bürgerschaft heranwächst? (**)? War und ist es nicht erwünscht, dass wir lieber Papa und Mama dankbar sein sollen, dass sie für uns denken, die Windeln trocken halten, unliebsame Probleme und gruslige Zusammenhänge von uns fernhalten, schwierige Spiele wegsperren, weil wir zu klein dafür sind? Mündige Bürger für ein Kreuzl alle 5 Jahre? Dafür genügt doch die Krabbelgruppe. Selbstverantwortung z.B. für unsere Gesundheit? Da reicht doch der Kinderglaube, dass für uns eine große Medizinmaschine sorgt und Experten mit treublauen Augen sichere Grenzwerte um unsere Nahrungsmittel stricken? Was hat Corona mit Bewahrung der Schöpfung zu tun? Hä? Ja genau, Werner, Klammer auf, Klammer zu, tun dir auch schon lang die Ohren weh vom dröhnenden hilflosen Schweigen der Kirchen in dieser Zeit der Not? Ich verwende die Mehrzahl, um der einen großen nicht zu nahe zu treten.
Und jetzt bricht bei den Menschen Panik aus. Jetzt dämmert es, dass die Eltern nichts mehr unter Kontrolle haben und nicht viel mehr versprechen können, als dass bald ein kleiner Pups in den Arm kommt, der gar nicht weh tut und der alles wieder gut werden lässt und dass es da eine App gibt, die schön blinkt, wenn der Krampus in der Nähe ist. Jetzt sollen wir alle plötzlich erwachsen und vernünftig sein, in der Lage, Angst und Panik unter Kontrolle zu halten, Bedürfnisverzicht und Spaßaufschub zu leisten? Jetzt sollen wir auf einmal verstehen, dass nur gemeinsames, verantwortungsvolles aktives Handeln uns weiterhilft? Jetzt sollen wir plötzlich das Wort „Gemeinwohl“ buchstabieren können, wo wir gerade bei Mama-Lallen sind? Sollten Partner auf Augenhöhe mit der Politik sein, wo diese auf Augenhöhe (zu oft auch darunter) immer nur mit den Mächtigen verkehrt?
Aber, Werner, um die ganze Wahrheit zu sagen - wir hatten eine geile Zeit und das allermeiste war uns ganz recht und unter der Decke mit denen da oben wars auch gemütlich. Kein Bock auf Augen auf und Erwachsenwerden. Goschn und maulen, recht viel mehr war da nicht.
Und jetzt? Ganz wohl ist dir auch nicht, wenn du darauf hinweist, wie erfolgreich die brutalen Eltern in China bezüglich Corona mit dem Völklein hantieren. Von wegen „zeitlich begrenzte Durchgriffsrechte“! Ich fürchte, mit „zeitlich begrenzt“ könnte es Probleme geben. Du unterschätzt die Faszination der Politik am autoritären Durchregieren. Dieser Wind weht ja schon eine Weile durch die Welt. Sogar die Schweizer Demokratieweltmeister mussten seinerzeit diese Erfahrung machen. Im Zuge des zweiten Weltkriegs genehmigten sich Regierung und Parlament das Notstandrecht und weitreichende Dringlichkeitsklauseln. Es dauerte bis 1952, bis es den BürgerInnen gelang, mit zwei direktdemokratischen Volksinitiativen diesem Treiben ein Ende zu setzen und demokratische Zustände wieder herzustellen. Von selber hätten es die Herren Parlamentarier nicht getan. Und wenn ich mir die Informationen des mehrfach ausgezeichneten Wirtschaftsjournalisten Norbert Häring über die großen Pläne für eine neue schöne Welt anschaue (https://norberthaering.de/die-regenten-der-welt/lock-step-rockefeller-stiftung/), dann wird mir ein bisschen unwohl, obwohl ich sie mit aufgestellten kritischen Ohren lese.
Nochmal, Werner, und jetzt? Mir fällt nicht viel mehr ein, als dass wir den Kindergarten beenden, ein-zwei Klassen überspringen, auch wenn wir die Hosen voll haben und beginnen definitiv darauf zu beharren, dass wir mehr Demokratie wollen, dass wir mitdenken, mitreden und mitentscheiden wollen zu all den großen Brocken, die da über unseren Köpfen schweben. Genehmigen wir uns Durchgriffsrechte. Zum Beispiel mit und in Bürgerräten. Viele gute Beispiele dazu in anderen Ländern können uns Mut machen.
Ja, ich weiß, es ist spät, vielleicht zu spät …. Wir stehen jetzt alle in einer Notfallsituation, nicht nur was Corona betrifft …. Was hast du dir als Notfallmediziner in solchen Situationen wohl gedacht? Wahrscheinlich nicht viel, sondern hast furchtlos das getan, was zu tun war, ohne Erfolgsgarantie. Leute wie du sind deshalb gut zu gebrauchen. Ich hoffe, du hast dich für die Pension nicht nur der Bauchnabelpflege verschrieben.
Wir in der Initiative für mehr Demokratie machen weiter. Und auch diese Initiative ist gut unterwegs: www.zukunftspakt-pattofuturo.org. Es gibt genügend weitere gute Standplätze für helle Köpfe und wache Herzen, die daran glauben, dass es sich - wenns denn sein muss - aufrecht tirolerischer stirbt.
Herzliche Grüße
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(**) Aktuellstes Beispiel: der Antrag der Initiative für mehr Demokratie, um eine Volksabstimmung über zwei Gesetzesvorschlägen (einer zur Senkung der Zugangshürden zu den Instrumenten der direkten Demokratie und einer zur Einführung von „Landesbürgerräten“), wurde vor einem Monat von der zuständigen Kommission abgelehnt. Begründung: solche Themen gehören nicht in die Hand des Volkes, sondern sind dem Landtag vorbehalten. Wir werden Rekurs einlegen.
@ Erwin Demichiel Sind Sie
@ Erwin Demichiel Sind Sie der Meinung, dass sich sich ein Extremsportler, Intensiv- und Notfallmediziner u.a. (auch noch) politisch aktiv engagieren müsste, um kritische und treffende Aussagen in einem Interview zu machen?!
Habe mir den Text zum 2 Mal durchgelesen...recht giftig "eigentlich".
Lieber Erwin,
Lieber Erwin,
ich wusste, dass der Stein, den ich ins Wasser geworfen habe, Kreise ziehen würde; es war Deine Pflicht, darauf zu antworten. Danke erstmal für den Stil: offenes Visier, zivilisierte Schreibe, Klarname.
Meine Antwort ebenso vorneweg und hiermit auf dieser anderen Plattform als der Interviewtext, so what.
Ich habe mir das "Durchgriffsrecht" in etwa als das vorgestellt, was Deutschland gestern (18.11.20) mit der Novellierung des "Infektionsschutzgesetzes" (IfSG) von 2001 beschlossen hat.
Im Telegrammstil:
Richtlinie zur Beherrschung einer neuartigen infektiologischen Bedrohung, die bisher weder bekannt noch präzise gesetzlich verschriftlicht worden war; Regelung von Abstandsgebot, Maskenpflicht, Reisebeschränkungen, Ausgangsbeschränkungen, Schließung von Betrieben, Veranstaltungen, Gottesdiensten.
Alle Verordnungen sind zeitlich befristet (!) auf 4 Wochen (mit der Möglichkeit der Verlängerung) und müssen begründet werden; eine zukünftige Impfpflicht ist nicht vorgesehen. Ziel des Ganzen ist Rechtssicherheit zu schaffen, auch im Hinblick auf bisherige zahllose Rekurse und von Gerichten gekippte Anordnungen.
Bei allem persönlichen Unbehagen (das Du treffend zwischen meinen Zeilen herausgelesen hast) für derartige Gesetze halte ich diese Entwicklung in D für mutig, notwendig und lebensrettend für viele Bürger. So sollte Politik auch funktionieren: rasche, wirksame Entscheidungen auf breitem demokratischen Fundament (Gesetz wurde mit großer Mehrheit beschlossen) mit klaren zeitlichen Befristungen.
Lieber Erwin, als gebilder Mensch und Psychologe kennst Du das Trolley-Problem ("Weichenstellerfall") im Kontext des Ethischen Dilemmas:
eine Straßenbahn ist außer Kontrolle geraten und droht, 5 Personen zu überrollen. Durch Umstellen einer Weiche kann die Straßenbahn auf ein anderes Gleis umgeleitet werden. Unglücklicherweise befindet sich dort 1 weitere Person. Darf (durch Umlegen der Weiche) der Tod einer Person in Kauf genommen werden, um das Leben von fünf anderen zu retten?
Was tun? Jede Lösung ist falsch, genügend Zeit für langes Überlegen, Befragen von Experten, Befassung des Parlaments u.a. gibt es nicht.
Die fehlende Zeit ist der größte Scharfrichter in dieser Pandemie. Im steilen Aufstiegsschenkel einer exponentiellen Kurve entscheidet jeder Tag über Legionen von Toten und Versehrten.
Genau in diesem Dilemma steht momentan die Politik. Handelt sie rigoros und verhindert damit möglicherweise potentielles Unheil, bleibt sie im Präventionsparadoxon gefangen ("ist ja eh nix passiert"); unterlässt sie notwendige Maßnahmen (Trump, Bolsonaro), führt das direkt in die nationale Katastrophe.
In Neapel drohen Menschen in ihrem Auto im Stau vor der Notaufnahme des Krankenhauses an Sauerstoffmangel zu sterben, während ein paar Häuserblocks weiter der Mob ganze Straßenzüge verwüstet, weil er nicht zum SSC Napoli ins Stadion darf.
Versammlungsfreiheit?
Auch ich bin deiner Meinung, dass unsere Demokratie sich drastisch weiterentwickeln muss, sie ist kein Selbstbedienungsladen und kein Gefängnis, aber Wasserwerfer und Tränengas zum Schutz der Verfassung sind auch keine Lösung.
Ich danke Dir, dass Du Dich so engagiert dafür einsetzt.