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Kultur | Montalbanos Erfinder
Andrea Camilleri - ein Gigant
Ich habe Andrea Camilleri zwei Mal getroffen. Einmal in der Accademia Nazionale di arte Drammatica in Rom, an der er als beliebter Professor unterrichtete. Und einmal in seinem sizilianischen Geburtsort Porto Empedocle, dem Vigata vieler seiner Romane – einem Ort, in dem die Süßspeisen der Konditoreien und Liköre die Namen seiner Romanfiguren tragen und in jeder Osteria die sarde a beccafico serviert werden, die zu den Lieblingsspeisen jenes Commissario Montalbano gehören, den Camilleri weltweit bekannt gemacht hat. An der römischen Schauspielakademie war Camilleri ein bei seinen Studenten beliebter Professor – ein Kettenraucher und Biertrinker ohne Dünkel, ein begnadeter Lehrer von unerschöpflicher Phantasie. Ein politisch engagierter Mensch, der bereits in den 40er Jahren der KPI beigetreten war und ein der Innovation verschriebener Theatermann, der in Italien als erster Samuel Beckett auf die Bühne brachte. Für Camilleris Charakter ist es bezeichnend, dass er seinen Lehrberuf an der Schauspielakademie auch dann nicht aufgab, als ihm sein internationaler Erfolg als Autor längst eine sorglose Existenz garantierte. Berührungsängste waren ihm fremd.
Bei den Vorlesungen, zu denen er mich einlud, zeigte sich die Nähe zu seinen Studenten, die er mit seiner rauen Stimme liebend gerne in Diskussionen verwickelte und die er permanent dazu aufforderte, den Konventionen zu misstrauen und neue Wege zu gehen: "Non rassegnatevi. Anch'io per anni ho scritto e pubblicato racconti senza successo." Seinen ersten grossen Bucherfolg feierte Camilleri mit dem Montalbano-Debüt "La forma dell'acqua" 1994.
In Porto Empedocle war stets Sizilien sein Lieblings- und Hassthema, jener Mischung aus Zuneigung und Verachtung, die er mit einem Landsmann teilte, dessen Geburtshaus nur wenige Kilometer entfernt an der Küste stand: Luigi Pirandello, Nobelpreisträger und kompromissloser Kritiker sizilianischer Missstände. Dem auch durch die erfolgreiche Fernsehserie entstandenen Montalbano-Kult begegnete er stets mit Ironie – seinem unerschöpflichsten Fundus.
Bei den Vorlesungen, zu denen er mich einlud, zeigte sich die Nähe zu seinen Studenten, die er liebend gerne in Diskussionen verwickelte und die er permanent dazu aufforderte, den Konventionen zu misstrauen und neue Wege zu gehen.
Camilleri publizierte seine ersten Romane erst mit 60 und schrieb deren 30 – der letzte, "Il cuoco di Alcyon", ist erst vor wenigen Wochen erschienen. Übersetzt wurden seine Werke in mehrere Dutzend Sprachen. Verfasst sind sie in einem von Camilleri erfundenen Phantasie-Dialekt, der den Übersetzern in aller Welt erhebliche Probleme bereitet haben muss. Für den Autor blieb unerklärlich, warum er gerade in Japan so viele Bücher verkaufte. "Ich würde gerne verstehen, wie all die sizilianischen Begriffe übersetzt wurden, aber ich muss mich damit begnügen, die suggestiven Schriftzeichen zu betrachten", schmunzelte er. Die Sprache seiner Romane bezeichnet er als "reinvenzione del dialetto con recupero di una certa quantità di parole contadine che si sono perse nel tempo".
Für Camilleris Geradlinigkeit und intellektuelle Redlichkeit spricht, dass er auch nach den internationalen Bucherfolgen mit Millionen verkaufter Exemplare seinem sizilianischen Sellerio-Verlag treu geblieben ist und ihm damit das Überleben ermöglichte. Sogar der zunehmenden Blindheit, die ihm in den letzten Jahren zu schaffen machte, konnte er in gewohnter Ironie Positives abgewinnen: "Così non devo più vedere certe facce", lächelte er unter Anspielung an Matteo Salvini. Sein eigentliches Testament vollzog Andrea Camilleri vor einem Jahr mit dem legendären Auftritt bei der "Conversazione su Tiresia" im Teatro Greco von Siracusa, wo ihn fast 5000 Zuschauer mit langen Beifallsstürmen feierten und wo er mit 93 ein letztes Mal sein unerschöpfliches Wissen, sein beneidenswertes Bildungsniveau, sein politisches Engagement und seinen unverwüstlichen Humor zelebrierte: "Spero di rivedervi tra 100 anni."
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