Politik | Türkei

Mit dem Terror leben

Sirenengeheul, Hubschrauberlärm und übermäßige Polizeipräsenz überschatten das Alltagsleben in Istanbul. Stündlich gehen Bombendrohungen ein, täglich ein Attentat.

Die meistgestellte Frage meiner Verwandten, Freunde und Bekannten lautet derzeit wieder: wie lebst Du in Istanbul mit den dauernden Attentaten und der geographischen und politischen Nähe des IS-Terrors zur Türkei? Die Antwort lautet: eher schlecht. 

Wenn ich aus dem Haus gehe, nehme ich - logischerweise - sämtliche Ausweise mit, um im Fall von Kontrollen oder auch einer Verletzung bei einem Attentat identifizierbar zu sein. Bargeld habe ich dabei, um notfalls sofort ein Flugzeug besteigen zu können.

Meine Freundin, die italienische Vize-Konsulin, hat die Telefonnummern meiner Familienangehörigen, um sie im Notfall zu benachrichtigen.  

In meiner nächsten Umgebung, dem Taksim-Platz, herrscht kontinuierlich der Ausnahmezustand. Mindestens einmal am Tag heißt es, eine Bombe sei dort plaziert. Bisher hat es sich immer um Fehlalarm gehandelt. Eben hat mich mein Mann angerufen und mir empfohlen, nicht aus dem Haus zu gehen. In Galata (10 Minuten zu Fuß) und Taksim werde wieder nach einem Sprengsatz gesucht und beim Dolmabace-Palast habe es wieder eine Schießerei gegeben.

Am Montag hieß es, in der U-Bahn-Station von Taksim sei ein Sprengsatz gefunden worden. Diese U-Bahn-Station benutze ich normalerweise mindestens einmal am Tag, weil sie auch den Bahnhof der Funikulär (Zahnraddbahn) beherbergt, die die Endstation der Tram, nämlich Kabbatas, mit Taksim verbindet. 

Trotzdem: So richtig terrorisiert bin ich eigentlich nicht. Viele der Bombendrohungen sind hausgemacht, um das innenpolitische Klima anzuheizen. Immer nach demselben Spiel: Die Bürger sollen verängstigt werden, um den starken Mann, im Fall der Türkei, Erdogan, mit weiterer Macht auszustatten.

In vier Tagen läuft die Frist ab, die laut Verfassung nach Neuwahlen gewährt wird, um eine Regierung zu bilden. Der designierte Ministerpräsident Davutoglu hat am Montag das Handtuch geworfen und Erdogan das Mandat zur Regierungsbildung zurückgegeben. Dabei ist unklar, wie gut oder schlecht das Verhältnis zwischen dem Staatspräsidenten und seinem Ministerpräsidenten mittlerweile geworden ist.

Istanbuler Bekannte behaupten, Erdogan habe Davutoglu absichtlich ins Messer laufen lassen, um eine Regierungsbildung zu torpedieren.

Dass der Staatspräsident auf Neuwahlen setzt, um in der aktuellen wirtschaftlichen und politischen Unsicherheit wieder seiner Partei AKP  zur absoluten Mehrheit zu verhelfen, ist ein offenes Geheimnis. Wenn, wie vorauszusehen, bis 23. August keine Regierung steht, dann soll es am 22. November wieder Parlamentswahlen geben.

Das bedeutet: Weitere Monate Wahlkampf, Attentatsdrohungen, Stimmungsmache gegen die Kurden und die Stilisierung Erdogans zu einem wahren Opferlamm. Dies hat der Islamische Staat ermöglicht, der kürzlich ein Video veröffentlicht hat, in dem zum Kampf gegen den "Teufel Erdogan" aufgerufen wird.

Ich glaube nicht, dass die Führungsspitze des Islamischen Staates jemals ernsthaft gegen Erdogan oder die Türkei vorgehen wird. Was dagegen möglich ist: Dass einige IS-Hardliner die Politik Erdogans wegen der Freigabe des türkischen NATO-Stützpunkts Incirlik als zu amerikafreundlich einstufen und deshalb das Video verbreitet haben. 

Ein weiterer Vorwurf gegen den "Teufel" Erdogan: Er benutze den Islam nur, um das Volk stillzuhalten und seine persönliche Macht auszuweiten.

Selbst wenn es einige IS-Abweichler auf Erdogan abgesehen hätten:  ihre Erfolgsaussichten wären gering. Der türkische Staatspräsident ist derart abgesichert und geschützt, dass Attentate wirkungslos blieben.  

In seinem 1000-Zimmer-Palast ist Erdogan unangreifbar. Wenn er sich zu Terminen begibt, etwa in Istanbul, ist die halbe Stadt abgesperrt. Im Konvoi von gepanzerten Autos und Leibwächtern ist immer ein mit modernster Technik ausgestatteter Krankenwagen dabei - für den Ernstfall.

Bis vor einigen Monaten hieß es, Erdogan leide an einer unheilbaren Krankheit, ihm blieben nur noch höchstens zwei Jahre, deshalb der Krankenwagen. Und deshalb auch das Mini-Spital in seinem Weißen Haus in Ankara. Inzwischen weiß man: Erdogan ist gesund und hat keine Absicht, sich aus der Politik zurückzuziehen.