Gesellschaft | Tabu

Wenn der Raum zum Trauern fehlt

Frauen aus 17 Ländern berichten im SZ Magazin über ihre Abtreibung. Darunter auch eine Frau aus Südtirol: “Schwangerschaftsabbrüche geschehen hier im Stillen.”
Frau
Foto: Pixabay

“Bis heute habe ich kaum jemandem von meinem Abbruch erzählt, nicht meinen Eltern, nicht der Familie, nur wenigen Freunden. Südtirol ist konservativ. Auch der Einfluss der Kirche ist groß (…). Schwangerschaftsabbrüche geschehen in Südtirol daher im Stillen.” 

Diese Stille durchbrechen 17 Frauen aus 17 Ländern, die in der Ausgabe 41/2022 des Magazin der Süddeutschen Zeitung über ihre Abtreibung berichten. Mit oder ohne Namen, Alter, Foto. Oder ganz anonym. So wie eine Frau aus Südtirol, die im Juli 2021 schwanger ist. Eine Autoimmunerkrankung und die Medikamente, die sie deswegen einnehmen muss, stellen ein großes Risiko für die schwangere Frau und ihr Kind dar. Außerdem steht eine große Operation bevor. “Mein Freund und ich entschieden daher, dass es das einzige Richtige wäre, das Kind nicht zu bekommen. So sehr der Gedanke auch schmerzte”, berichtet die Frau.

 

“Noch immer müssen Frauen auf der ganzen Welt darum kämpfen, abtreiben zu können. Fast überall werden Abtreibungen juristisch eingeschränkt und moralisch verurteilt.” So lautet die Einleitung zur aktuellen SZ-Magazin-Titelgeschichte “Eigener Bauch”. In Italien gilt das Recht auf Schwangerschaftsabbruch seit der Verabschiedung des Gesetzes Nr. 194 im Jahr 1978. Auf dem Papier. Denn Frauen, die sich dafür entscheiden, werden unzählige Steine in den Weg gelegt. Von der Bürokratie. Von Personal, das es an Sensibilität vermissen lässt. Auch in Südtirol. “Obwohl mein Freund neben mir saß und wir die medizinischen Gründe für den Abbruch darlegten, fragte die zuständige Frau (beim gesetzlich vorgeschriebenen Aufklärungsgespräch vor einer Abtreibung, Anm.d.Red.) mehrfach, ob ich vergewaltigt worden sei, ob ich finanzielle Hilfe benötigte, ob sie mich an Hilfsorganisa­tionen verweisen könne. Nach der siebentägigen Bedenkzeit rief sie mich noch zweimal an, um zu fragen, ob ich mir die Sache anders überlegt hätte.” Von Gynäkologen und Anästhesisten, die sich aus Gewissensgründen weigern, Abtreibungen durchzuführen oder dabei zu assistieren, den so genannten “obiettori di coscienza”

Italienweit ist das mit dem Gesetz 194/1978 eingeführte Recht auf Zugang zum Schwangerschaftsabbruch an über einem Drittel der öffentlichen Krankenhäuser und Kliniken nicht garantiert. Laut aktuellen Daten des Gesundheitsministeriums werden an 63,8 % der Strukturen (357 von 560) Abtreibungen durchgeführt. Dort sind wiederum 64,6 % der Gynäkologen, 44,6 % der Anästhesisten und 36,2 % des nicht medizinischen Personals obiettori di coscienza. Diese Tatsache hat dieser Tage die Vereinten Nationen auf den Plan gerufen. In einem Bericht zeigt sich der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte zum wiederholten Mal besorgt: “Der Ausschuss ist weiterhin besorgt über die nach wie vor eingeschränkte Verfügbarkeit und Zugänglichkeit von Abtreibungsdiensten, die noch dadurch verschärft wird, dass das Gesundheitspersonal aus Gewissensgründen die Durchführung solcher Eingriffe ablehnt, was schwangere Frauen dazu veranlasst, sich unsicheren Abtreibungen zu unterziehen.”

 

In Südtirol werden an zwei der sieben öffentlichen Spitäler (28,6 %) Abtreibungen durchgeführt: in Bozen und Meran. Dort scheinen 84,5 % der Gynäkologen 62,4 % der Anästhesisten und 73,5 % des nicht medizinischen Personals als obiettori di coscienza auf (zum Vergleich: Im Trentino liegen diese Quoten bei 35,9, 27,1 und 14,7 %). In Wirklichkeit dürfte der Anteil deutlich höher sein. Nicht notwendigerweise führen Ärzte, die sich bei Vertragsunterzeichnung nicht zum obiettore erklären, Schwangerschaftsabbrüche durch. Am Krankenhaus Bozen führt seit Jahren nur ein einziger – inzwischen pensionierter – Frauenarzt über eine Vereinbarung mit dem Sanitätsbetrieb die Abbrüche durch. Immer montags.

An einem Montag im Spätsommer 2021 hat auch die Südtirolerin, die im SZ Magazin ihre Geschichte teilt, einen Termin im Bozner Krankenhaus. Sie berichtet von der – physisch und psychisch – schmerzlichen Erfahrung: “Mein Freund kam mit ins Krankenhaus. Wir saßen zusammen im Gang, waren total aufgelöst. Ich fragte ihn: Machen wir das Richtige? Er kniete vor mir, wir hielten uns aneinander fest, waren uns plötzlich nicht mehr sicher. Dann kam eine Pflegerin und sagte, dass mein Freund jetzt gehen müsse. ›Ab hier ist es Frauensache.‹ Als ich die ­Pille bekam, die den Abbruch einleitete, spürte ich plötzlich höllische Schmerzen. (…) Ich weinte, hielt es fast nicht aus. Ich sollte die Liege wechseln, sah mich dazu aber körperlich nicht in der Lage. Da sagte die Pflegerin, ich solle mich nicht so anstellen, die anderen Frauen hätten es auch geschafft. (…) Ich bekam das ­Gefühl, dass die miese Behandlung an der Sache lag, wegen der ich da war. Als müsste ich büßen. Aus der Narkose bin ich weinend aufgewacht.”

Über ihr Erlebtes zu sprechen hat sie bisher nicht geschafft. Auch weil Abtreibung in Südtirol nach wie vor ein Tabu ist. “Südtirol ist konservativ. Auch der Einfluss der Kirche ist groß, die Meinung des Papstes zählt hier noch was – und dessen Aussagen kennt man ja. Abtreibung sei Auftragsmord, so in etwa sagt er das. Schwangerschaftsabbrüche geschehen in Südtirol daher im Stillen. Wozu das führt, habe ich erst spät gemerkt: Wenn man nirgends hinkann mit seinen Worten und ­Gedanken, kann man nicht trauern. Es gibt einfach keinen Raum dafür. Also frisst man den Schmerz in sich hinein.” Dieser Mauer des Schweigens hat die Frau im SZ Magazin gemeinsam mit 16 anderen aus USA, Bangladesch, Uruguay, Deutschland, Brasilien, Polen, Namibia, Syrien, Argentinien, Dänemark, Ecuador, Israel, Frankreich, Schweiz, Ägypten und Indien einen tiefen Riss versetzt. Während im neuen italienischen Parlament schon am ersten Tag der Arbeiten vom FI-Senator Maurizio Gasparri ein Gesetzentwurf präsentiert wurde, mit dem das Recht auf Abtreibung ausgehöhlt werden soll.