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Doktor Ötzi

Im Gespräch mit dem Journalisten Heinrich Schwazer erzählt Eduard Egarter Vigl anekdotenreich über die bekannteste Südtiroler Leiche. Ein "Appetizer" zum neuen Ötzi-Buch
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Foto: Quelle: Edition Raetia

Im Juni 1997 wurden Sie vom Seziertisch weg von heute auf morgen zum Ötzi-Konservator ernannt. Haben Sie sich vorher jemals mit Mumien beschäftigt?
Nein. Ehrlich gesagt hatte ich bis zu diesem Augenblick nicht das geringste Interesse an Mumien gehabt. Geschichte hat mich interessiert, Archäologie und Paläopathologie aber nie. Während meines Studiums an der Universität Padua befasste sich einer meiner Professoren, Herr Vito Terribile – nomen est omen –, neben seiner Lehrtätigkeit mit Mumien. In Italien ist das ein lukratives Geschäft, weil der Vatikan immer wieder Aufträge zu vergeben hat.

Die Kirche braucht erfahrene Pathologen, um Überreste von selig- oder heiligzusprechenden Personen untersuchen zu lassen, Reliquien zeitlich einzuordnen und so weiter. Das war eigentlich mein erster und einziger Kontakt mit diesem Bereich.

Seit damals pflegen Sie die berühmteste Mumie der Welt. Was hat das mit Ihrem Leben gemacht?
Die Beschäftigung mit Ötzi umfasst fast 20 Jahre. In dieser Zeit wurden dadurch mein Leben, mein Denken und meine berufliche Tätigkeit zweifellos geprägt. Er ist aber nicht mein Leben, schon gar nicht mein ganzes Leben.

Ötzi ist berühmt und hat Sie berühmt gemacht.
Ich war vielfach der Ansprechpartner für die Medien. Insofern fiel unvermeidlich etwas von Ötzis Berühmtheit auch auf mich ab.

Pathologe, Gerichtsmediziner, Ötzis Leibarzt – Ihr Weg scheint, salopp formuliert, mit Leichen gepflastert zu sein.
Der Beruf des Pathologen ist für viele Menschen schwer verständlich, weil sie in ihm einfach den Leichenbeschauer sehen. In den Witzen über Pathologen drückt sich meist eine gewisse Verlegenheit, vielleicht sogar Angst aus. Für mich ist es witzig, was Nicht-Pathologen über Pathologen denken – vor allem seit Vertreter meines Berufes dauernd in Krimis vorkommen, was früher ja nicht der Fall war.

Leibärzte standen historisch im Dienste von Königen, Fürsten und Päpsten. Was bedeutet der Titel für Sie?
Ich habe die Verantwortung für Ötzis „Mumiengesundheit“ getragen. Es handelt sich um eine archäologisch-anthropologisch weltweit einzigartige Mumie, insofern trifft der Titel zu.

Eine paradoxe Verantwortung, für die Gesundheit einer 5.000 Jahre alten Leiche zuständig zu sein.
Ötzi ist mehr als eine Leiche. Rein wissenschaftlich gesehen ist er eine 13,5 Kilogramm schwere Gletschermumie aus Haut und Knochen, Muskeln und Knorpeln, Bindegewebe und Wasser. Das extreme Interesse an diesem Körper hängt mit seinem Alter zusammen und damit, dass er sich trotzdem in einem sehr guten Erhaltungszustand befindet. Wir wundern uns, warum sich dieser Körper den biologischen Gesetzmäßigkeiten der Zersetzung entziehen konnte. Man kann versuchen, das zu erforschen und ihn folglich auf diese Weise weiter zu konservieren, damit er die nächsten 5.000 Jahre überlebt. Parallel kann man ihm nach und nach mit wissenschaftlich nachprüfbaren Methoden seine Geheimnisse entlocken. Schließlich hat dieser Mensch ja einmal gelebt und besaß einen funktionierenden Körper. Es ist nur natürlich, dass man bestrebt ist, aus den gewonnenen Erkenntnissen ein Bild des Menschen zu rekonstruieren: Wer war er, wie hat er gelebt, welche Rolle spielte er in seiner sozialen Umgebung, wie hat er sich ernährt, warum und wie ist er gestorben, wie verliefen seine letzten Stunden?

Fragen, die sich im Alltag eines Pathologen nicht stellen.
Bei einer frischen Leiche muss ich in der Regel nicht spekulativ werden, weil ich neben den objektivierbaren Fakten meistens auch eine Reihe von Zusatzinformationen zur Verfügung habe. Ich habe mir oft, besonders bei Todesfällen mit forensischer Relevanz, gesagt: Begib dich nicht auf Glatteis, indem du dich zu Äußerungen hinreißen lässt, die du nicht belegen kannst. Aber natürlich stehen Polizei und Staatsanwälte oft unter Ermittlungsdruck und erwarten vom Pathologen Antworten, die er gar nicht geben kann. Im Zusammenhang mit der Mumie Ötzi werden mir oft ganz andere Fragen gestellt wie: Was empfinden Sie, wenn Sie sich mit diesem 5.000 Jahre alten Mann in der Kühlzelle befinden, wie sehen Sie ihn usw. Das scheint viele Menschen zu interessieren und zu faszinieren.

Was empfinden Sie?
Kalt ist es in der Kühlzelle. Leisten Sie sich gelegentlich eine Fantasiereise in Ötzis Leben? Natürlich. Meistens, wenn ich allein bin in der Konservierungszelle und abwarten muss, bis die Mumie auftaut oder bis die richtige Temperatur erreicht wird, die für das Wiedereinfrieren ideal ist. Da vergehen oft Stunden. In der Zelle hat es minus 6 Grad, die Assistenten sind vielleicht einen Kaffee trinken gegangen. Das sind Mußestunden, in denen man mal kurz den Boden der Sachlichkeit verlässt und auf diesen Herrn schaut und … sich vielleicht ein paar Fragen stellt: Was sagt er mir?