lepen-179_v-gross20x9.jpg
Foto: ARD
Politik | Frankreich/Wahlen

Der schleichende Staatsstreich

Marine Le Pen will die Verfassung per Referendum radikal ändern – Nationales Recht vor EU-Recht, Ausländer Bürger zweiter Klasse, Bündnis mit Polen, Ungarn und Russland.
Sollte jemand noch Zweifel an den von Marine Le Pen proklamierten Visionen und Pläne für ein Frankreich mit ihr als Präsidentin gehabt haben, der bekam sie gestern Abend noch einmal in aller Eindeutigkeit serviert - im einzigen direkten, fast drei Stunden dauernden TV-Duell mit Emmanuel Macron, dem Höhepunkt des Wahlkampfs. Vor fünf Jahren hatte die vonseiten Le Pens aggressiv und völlig wirr geführte TV-Debatte für sie in einem absoluten Debakel geendet. Diesmal verlief trotz spürbarer Spannung die Diskussion diszipliniert, korrekt und auf die Themen fokussiert.
Macron betonte seine Erfolge (1,2 Millionen neuer Arbeitsplätze, Steuersenkungen, Umweltmaßnahmen, Verringerung der Staatsverschuldung) obwohl seine halbe Amtszeit ja von dramatischen Krisen (Gelbwesten-Proteste, Corona, Ukraine-Krieg) gezeichnet war. Seine Statur als Staatsmann und seine Kompetenz-Überlegenheit in Fragen der Wirtschaft und Außenpolitik, die auch 62 Prozent der befragten Wähler schätzen, brachten Le Pen wiederholt in die Defensive.
 
 
 
Die Herausforderin nannte sich selbst hingegen „das Sprachrohr der kleinen Leute, die unter Armut, Unsicherheit und Demütigung durch die Pariser Eliten zu leiden haben“. Doch während Macron die Zukunft des Landes in einer Vertiefung der europäischen Einigung, in technologischer Modernisierung und im Kampf gegen die Klimakrise sieht, sieht Le Pen in der Rückkehr zur Souveränität der Nation und im Kampf gegen die Globalisierung die Rettung vor dem Niedergang. Frankreich sei auch ohne EU eine Weltmacht und müsse die eigenen nationalen Interessen wieder selbstbewusster verfolgen. Donald Trump, der Brexit, Polen, Ungarn und Putin seien Vorbilder.
 

Franzosen zuerst

 
„Les Francais d`abord“ lautete der Kampfruf schon vor 50 Jahren, als Le Pen Vater Jean-Marie 1972 ein paar rechtsextreme Grüppchen vereinte und den Front National gründete. Als Offizier der Fremdenlegion im Einsatz in Indochina, während Suez-Krise und im Algerienkrieg, gestand Jean-Marie Le Pen ohne Reue, algerische Unabhängigkeitskämpfer gefoltert zu haben. In den Fünfziger Jahren schon als jüngster Abgeordneter der populistischen Bewegung von Pierre Poujade in der Assemblée Nationale, sorgte Le Pen erstmals auch für internationales Aufsehen, als er an der Spitze des Front National 1984 mit knapp 11 Prozent der Stimmen ins Europaparlament einzog. Damit begann der unaufhaltbare Aufstieg mit der vom neofaschistischen Almirante-MSI übernommenen Trikolore-Fackel als Partei-Logo.
 

Vatermord und Erbe

 
2011 übernahm Marine Le Pen die Parteiführung, allerdings mit lediglich 68 Prozent Zustimmung einer Mitgliederbefragung. Ihre Bemühungen zur Verjüngung und um ein moderateren Images stießen auf heftigen Widerstand des Vaters. Wegen seiner permanenten rassistischen, homofoben, antisemitischen und den Holocaust verharmlosenden Äußerungen ganze 25 Male rechtskräftig verurteilt, wurde „der Alte“ von seiner Tochter 2015 aus der Partei ausgeschlossen.
 
 
Der spektakuläre Bruch in Partei und Familie erlaubte Marine Le Pen zwar eine weniger radikale PR-Strategie, an den programmatischen Inhalten änderte sich trotz der Namensänderung von der nationalen „Front“ zur nationalen „Vereinigung“ – „Rassemblement National“ – kaum was.
 

Referendum zur Verfassungsänderung

 
Als ersten Schritt würde Marine Le Pen im Fall eines Wahlsieges mindestens sechs Bestimmungen der Verfassung per Referendum ändern, um das Prinzip der „priorité nationale“ in allen Gesellschaftsbereichen zu verankern. Abgesehen von den konkreten Maßnahmen (dazu weiter unten), sorgt die geplante Vorgehensweise für einen Aufschrei von Verfassungsrechtlern, Intellektuellen und den anderen Parteien.
Denn Le Pen würde den Artikel 11 der Verfassung anwenden wollen. Der regelt die Abhaltung von Referenden „auf Volksinitiative“, sprich wenn 10 % der Wähler (ca. 4 Millionen) das fordern. Allerdings schließt der Artikel 11 Änderungen der Verfassung aus. Sie kann nur gemäß Artikel 89 abgeändert werden – und dieser sieht die Mehrheits-Zustimmung durch die Assemblée Nationale und den Senat vor.
 

Plebiszit anstatt Verfassung

 
All das will Marine Le Pen umgehen. Sie beruft sich dabei auf General de Gaulle. Der hatte 1962 die Direktwahl des Staatspräsidenten durch das Volk per Referendum nach Artikel 11 durchgesetzt. Der spätere Präsident Francois Mitterrand hatte De Gaulle schon damals in seinem flammenden Essay „Der permanente Staatsstreich“ des Putsches beschuldigt. Als De Gaulle 1968 ein zweites Mal den ihm feindlich gesinnten Senat per Referendum umgehen wollte, brachte ihn der Widerstand dagegen endgültig zu Fall.
Le Pen behauptet hingegen, ihre Interpretation sei im Sinne der Verfassung, weil das Volk als Souverän das letzte Wort haben müsse und selbst die Verfassungsrichter ein per Referendum beschlossenes Gesetz nicht beanstanden könnten. „Staatsstreich“ rufen sämtliche Gegner und Kritiker.
 
 
Ginge es nach Le Pen sollten in Zukunft schon fünfhunderttausend Wählerstimmen ausreichen, um die Abhaltung eines Referendums zu erzwingen. Weiters sollten solche Referenden über alle Fragen und Themen der Gesellschaft möglich werden. Ausgeschlossen würden lediglich Entscheidungen, die „gravierende nationale Interessen“ betreffen.
 

Ausländergesetz in die Verfassung

 
Sämtliche Gesetze und Regelungen die den Platz und die Rolle von Ausländern betreffen, will Marine Le Pen nach dem Prinzip der „nationalen Priorität“ reformieren und in der Verfassung verankern. Das soll die „Dilution“ (Verdünnung, Verwässerung) Frankreichs durch „Dekonstruktion“ und „Submersion“ (Überflutung) verhindern. Die Zuwanderung müsse so eingeschränkt werden, dass die „Zusammensetzung und Identität des französischen Volkes nicht verändert“ werde. Die These des drohenden „großen Bevölkerungsaustauschs“ der Identitären lässt grüßen. Konkret:
 
  • Flüchtlingsaufnahme und Familienzusammenführung sollen um 75% reduziert werden
  • Die Staatsbürgerschaft soll nicht mehr automatisch durch Heirat mit einem französischen Staatsbürger erreicht werden
  • Abschaffung des ius soli, also des Anrechts auf Staatsbürgerschaft durch die Geburt in Frankreich
  • Vorrang für Staatsbürger beim Zugang zur Arbeit in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst, zu Sozialwohnungen, aber auch zu Dienstleistungen im Gesundheitswesen bis hin zum Krankenhaus und zu allen Formen der Sozialhilfe, die erst nach fünf Jahren Arbeit im Land gewährt werden sollen
  • Aberkennung der Aufenthaltsberechtigung für alle, die ein Jahr lang nicht gearbeitet haben
  • Großzügige Unterstützung soll es hingegen für die „natalité francaise“ (Geburtenförderung) geben, z.B. Gratiskredite bis zu einhunderttausend Euro für Elternpaare unter 30, Kredite die bei Geburt des dritten Kindes zum Geschenk mutieren; aber keine Familienbeihilfe für Ausländer
  • Die freie Religionsausübung bleibt garantiert, aber bei gleichzeitigen Maßnahmen gegen den Islamismus, z.B. Verbot des islamischen Kopftuches für Frauen in der Öffentlichkeit (außer für „alte Muaterln“, denn für sie sei das Kopftuch Tradition und nicht religiöser Fanatismus)
Soweit nur die drastischsten „Highlights“ des Le Pen – Programms. Maßnahmen die eklatant dem Geist der revolutionären Proklamation von 1789 „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, der Erklärung der Menschenrechte sowie der Preambel der französischen Verfassung widersprechen.
 
 
Besonders inhuman aber auch dazu angetan, den sozialen Frieden im Land zu gefährden sind die Ankündigungen Le Pens zum Wohnrecht. Sie wolle 620 000 Sozialwohnungen, in denen Ausländer wohnen, rasch „auf den Markt bringen, zugunsten von Familien mit zumindest einem französischen Elternteil“. Das wären umgerechnet an die 1,6 Millionen Menschen, deren Mietvertrag nicht mehr gesichert wäre – selbst wenn sie seit vielen Jahren mit ordentlichem Aufenthaltsstatus im Lande leben. Auch 90 000 von Ausländern bewohnte Plätze in Studentenheimen sollten zugunsten von französischen Studierenden geräumt werden. Dabei hat das Verfassungsgericht wiederholt befunden, dass jeder regulär in Frankreich sesshafte Ausländer dieselben sozialen Rechte und Ansprüche besitzt wie Staatsbürger. Ein Sprecher des Wahlkampf-Teams von Marine Le Pen hat die Gefahr von Zwangsdelogierungen zwar zu entkräften versucht, aber in der Wahlpropaganda werden die Migranten und ihre Familien weiterhin als Ursache der großen Wohnungsnot an den Pranger gestellt.
 

Sozial-Populismus für die „Abgehängten“

 
Spätestens seit den monatelangen, teils gewaltsamen Protesten der „Gelbwesten“ 2019 hat Marine Le Pen die sozialen Probleme der „kleinen Leute“ ins Zentrum ihrer Politik gerückt. Denn die  Niedrigverdiener und Angehörigen der unteren Mittelschicht am Lande und in der Peripherie der Städte gehören seit langem zu den Verlierern der rasanten Globalisierung. Ganze Landstriche sind entvölkert, weil Landwirte, Handwerker und Kleinunternehmer bankrott gehen. Infrastruktur und Dienstleistungen wie öffentlicher Verkehr, Spitäler, Post, Banken, Polizeikommissariate, Geschäfte und Freizeiteinrichtungen wurden vernachlässigt oder als unrentabel wegrationalisiert. Zwei Jahre Pandemie mit strengen Lockdowns, Geschäftsrückgang und die sprunghafte Inflation seit Putins Ukraine-Krieg haben die sozialen Nöte und die Zukunftsängste dieser Bevölkerungsschichten zugespitzt und zum zentralen Thema des Wahlkampfes gemacht.
 

Steuern und Abgaben runter, Löhne und Renten erhöhen

 
Als Sofortmaßnahmen verspricht Marine Le Pen eine Senkung der Mehrwertsteuer für Energie von 20 auf 5.5% und ihre komplette Abschaffung für rund einhundert lebensnotwendige Waren und Produkte. Ebenso abgeschafft werden sollte die Einkommenssteuer für alle Unter-30-Jährigen, wovon natürlich Besserverdiener und Reiche am meisten profitieren würden. Dasselbe gilt für die Abschaffung gewisse Immobiliensteuern und der Erbschaftssteuer für Immobilien bis zu einem Wert von 300.000.-€
Erhöhung der Löhne um 15% (!) und erfolgreiches Wirtschaften sichern will Le Pen durch eine Senkung der Lohnnebenkosten, sprich Arbeitgeberanteile sowie der in Frankreich als „Produktionssteuer“ bekannten verschiedenen Abgaben von Unternehmen unabhängig von ihrem Profit. Rechnet man die versprochene Erhöhung der Mindest- und Kleinpensionen und etliche weitere Sozialmaßnahmen dazu, würde das nach Berechnungen namhafter Ökonomen ein jährliches Loch von rund 100 Milliarden Euro ins Budget reißen.
 

Wirtschaftsnationalismus gegen EU-Regeln

 
Marine Le Pens Politik der „Nationalen Priorität“ und Rückgewinnung der Souveränität würde zu sehr ernsthaften Konflikten mit der EU an gleich mehreren Fronten führen.
 
  • Nach dem Vorbild Polens sollen nationale Gesetze wieder über jenen der EU stehen
  • Die Abkommen zur Agrarpolitik sollen neu verhandelt und der Green Deal aufgekündigt werden
  • Einspruch gegen die EU-Bestimmungen über die Mehrwertsteuer-Sätze
  • Reduzierung der französischen Beitragszahlungen zum EU-Budget um 5 Milliarden Euro
  • Striktere Einfuhrbestimmungen und Grenzkontrollen für Waren und Produkte, die als unfaire Konkurrenz gesehen werden
  • In allen Gemeinschaftsausspeisungen (Betriebskantinen, Schulmensen etc.) sollen künftig verpflichtend 80% französische Produkte auf den Tisch kommen – was de facto die Wettbewerbsregeln des gemeinsamen Marktes aufheben würde
 
 
Ein national-souveräner Sonderweg soll auch bei der Energie- und Klimapolitik gegangen werden. So fordert Le Pen den Ausstieg aus dem gemeinsamen Stromnetz der EU. Begründung: durch den hohen Anteil des aus Nuklearkraftwerken gewonnen Stroms könnte der Preis in Frankreich wesentlich gesenkt werden. Die derzeitige Versorgungssicherheit dank der Ausgleichslieferungen mit den anderen Ländern bei Schwankungen in Produktion und Verbrauch von Strom wäre in Gefahr.
 

Nein zu Wind- und Solarenergie

 
Vollkommen populistisch surft Marine Le Pen auf der Welle der sehr kontroversiell und emotional geführten Debatten Pro und Contra Energiewende. Weil es seit Jahren viele lautstarke Bürgerinitiativen gegen die „Massakrierung“ der französischen Landschaft durch abwegigen „Klimaterrorismus“ gibt, verspricht Le Pen ein Moratorium: neue Windräder oder Solarparks sollen nicht mehr gebaut, die bestehenden sogar sukzessive abgebaut werden!
Stattdessen soll verstärkt auf Wasserkraft, Geothermie und Nuklearkraftwerke gesetzt werden. Zwar bekennt sich Le Pen zum Pariser Klimaabkommen, will aber die konkreten Klimaziele jährlich neu verhandeln.
 

Europa der Nationen - Frexit durch die Hintertür

 
Entgegen ihrer langjährigen Propaganda sagt Marine Le Pen, sie wolle nicht mehr aus der EU und dem Euro austreten. Würde sie als Präsidentin allerdings auch nur einen Teil der geplanten rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Maßnahmen umsetzen, wäre eine grundsätzliche Erschütterung oder gar ein Bruch mit den EU-Partnern unausweichlich.
Und nicht minder schwerwiegend sind Le Pens Pläne in außenpolitischer Hinsicht. Sie würde sämtliche gemeinsamen Rüstungsprojekte mit Deutschland aufkündigen „wegen unüberbrückbarer strategischer Differenzen“.
 
 
Gegen Deutschlands Bemühungen zur Aufnahme in den UNO-Sicherheitsrat würde Frankreich stimmen und „nicht zulassen, dass Deutschland unsere Atomindustrie zerstört.“
Aus dem integrierten Militärkommando der NATO soll Frankreich wieder austreten, die westlichen Sanktionen gegen Russland wegen des Ukrainekrieges unterstützt Le Pen nicht – ukrainische Flüchtlinge sollen aber aufgenommen werden (sind ja Weiße, Christen und Nachbarn). Aber nach Ende des Krieges würde sich Frankreich unter Le Pen für engere Beziehungen zwischen der NATO und Russland einsetzen. Und insgesamt soll Frankreich im Sinne eines „Europa der souveränen Vaterländer“ die bilateralen Beziehungen etwa zu Russland, Polen und Ungarn wieder intensivieren. Das ist sicher Musik in Wladimir Putins Ohren, den Marine Le Pen so verehrt, dass ein gemeinsames Foto der beiden ihre Wahlkampfbroschüren zierte. Die mussten wegen des Angriffs auf die Ukraine allerdings schleunigst eingezogen und vernichtet werden.