Gesellschaft | Interview

“Ein Land wie Tirol kann das leisten”

In Bozen berichtet die Tiroler Landesrätin Christine Baur darüber, wie ihr Land über 6.000 Asylbewerber unterbringt und versorgt: “Wir bekommen das gut hin.”
Christine Baur
Foto: Grüne Tirol

Seit 2013 ist Christine Baur als Tiroler Landesrätin für Soziales und Integration zuständig. Am Mittwoch Abend wird die Grüne Politikerin in Bozen zu Gast sein und über ihre Erfahrungen in der Aufnahme von Flüchtlingen berichten (s. Infobox). Doch wie funktioniert das Tiroler Aufnahmesystem eigentlich?

salto.bz: Frau Baur, wie viele Asylbewerber sind derzeit im Bundesland Tirol untergebracht?
Christine Baur: Ungefähr 6.100. Es waren auch schon mal fast 7.000 Momentan tut sich da nicht sehr viel.

Wer kümmert sich um diese Menschen?
In Österreich gibt es eine so genannte Grundversorgungsvereinbarung zwischen dem Bund und den Ländern. Darin ist festlegt, wie Asylbewerber während des Verfahrens in Österreich versorgt werden und, dass die Länder mit dieser Aufgabe betraut werden. Dafür können sie sich laut Vereinbarung auch Dritter bedienen. In Vorarlberg zum Beispiel hat die Caritas die Aufnahme und Versorgung übernommen, in Wien macht es die Volkshilfe. Tirol ist das einzige Bundesland, das diese Grundversorgung selber macht.

In welcher Form?
Seit drei Jahren gibt es die Tiroler Soziale Dienste GmbH. Das ist eine zu 100 Prozent landeseigene Gesellschaft, die mit verschiedenen Aufgaben betraut wurde: Unterbringung, Versorgung, Betreuung und Integration der Asylbewerber. Derzeit sind in etwa 300 Personen dafür zuständig.

Die Frage, die wir uns stellen müssen ist, wie kann es gelingen, Brücken zu bauen und keine Mauern aufzurichten? Die meisten Menschen erlebe ich bereit, diese Strategie zu fahren.

Wie werden in Österreich die Asylbewerber auf die neun Bundesländer verteilt?
Über eine Länderquote. Ausgehend von der Anzahl von Asylbewerbern, die sich in Österreich aufhalten, werden sie je nach Einwohnerzahl und Größe den Bundesländern zugewiesen.

Welche Quote muss Tirol erfüllen?
Tirol muss 8,4 Prozent der sich in Österreich befindenden Asylbewerber aufnehmen.

Südtirol hingegen nimmt 0,9 Prozent der Asylbewerber, die sich in Italien aufhalten, auf. Das sind aktuell etwa 1.400 Personen – im Vergleich zu Tirol also deutlich weniger. Dennoch sprechen viele in Südtirol davon, dass das nicht zu schaffen sei. Was sagen Sie, die sich derzeit um mehr als 6.000 Menschen kümmern muss, dazu?
Wissen Sie, Tirol hat 72 Millionen Nächtigungen im Jahr und über 700.000 Einwohner. 6.000 Asylbewerber sind also nicht einmal 1 Prozent der Bevölkerung. Diese Menschen aufzunehmen ist etwas, was ein Land wie Tirol sehr gut leisten kann. Im Übrigen haben wir viel Erfahrung in der Flüchtlingshilfe, da es in Tirol immer schon Asylwerber gegeben hat.

Nichts Neues also?
Nicht ganz. 2015 standen wir vor der großen Herausforderung, dass innerhalb kurzer Zeit sehr viele neue Unterkünfte haben geschaffen werden müssen. Was aber nicht bedeutet, dass es an sich nicht zu bewältigen gewesen wäre. Aus logistischer Sicht haben wir die Erfahrung und das Know How. Bedenken Sie etwa, dass es bei einem Urlauberwechsel im Zillertal viel mehr Menschen sind, die kommen und gehen.

Wie hat die Bevölkerung damals reagiert?
Die politische Situation war medial teilweise sehr aufgeheizt und es war schon herausfordernd, mit den Vorurteilen, die zum Teil vorherrschten, zurecht zu kommen. Auf der anderen Seite gab und gibt es immer noch ein riesiges Entgegenkommen und großartige Unterstützung seitens der Zivilbevölkerung. Sehr viele Menschen bieten ehrenamtlich Unterstützung an und schaffen ein gutes Klima der Begegnung.

Wenn Sie heute auf 2015 und die von Ihnen erwähnten Herausforderungen zurückblicken, können Sie sagen: Tirol hat das eigentlich gut hinbekommen?
Ich finde schon, ja. Anfangs waren es etwa 1.400 Asylwerber, die die Gesellschaft aufgenommen hat. Mit der zunehmenden Anzahl von Schutzsuchenden hat auch die Organisation sehr rasch wachsen müssen und neue Strukturen finden.

Diese Menschen aufzunehmen ist etwas, was ein Land wie Tirol sehr gut leisten kann.

Ein Großteil der Aufnahme von Asylbewerbern in Südtirol konzentriert sich auf die Landeshauptstadt Bozen. Wie sind die Aufnahmestrukturen in Tirol über das Bundesland verteilt?
Auch in Innsbruck leben im Verhältnis mehr Asylwerber. Es gab auch mehrere große Notunterkünfte in Innsbruck, von wo aus die Menschen aber in kleinere Strukturen verteilt wurden. Und mittlerweile sind die Menschen eigentlich über ganz Tirol verstreut. Was auch sehr gut funktioniert – wir sind inzwischen sehr gut eingespielt.

Wie werden die Asylbewerber in den Tiroler Strukturen betreut?
Ich bin sehr für das Konzept “Integration von Anfang an” und dafür, dass die Tage des Asylverfahrens – das immer noch mindestens ein Jahr dauert – sinnvoll genutzt werden. Uns war es immer besonders wichtig, dass es eine geregelte Tagesstruktur gibt. Die meisten Heime, die wir haben, sind dazu Selbstversorgerheime: die Bewohner gehen selber einkaufen, kochen selbst. Die Kinder gehen in die Schule oder den Kindergarten, die restlichen Personen werden nach Möglichkeit gemeinnützig beschäftigt. Denn Asylwerber haben in Österreich keinen Zugang zum Arbeitsmarkt. Inzwischen bieten wir auch flächendeckend Deutschkurse an. Dazu gibt es medizinische und psychologische Betreuung – und natürlich sehr viele Aktivitäten von Ehrenamtlichen und Freiwilligen.

Wer finanziert die Aufnahme, Unterbringung und Versorgung der Asylbewerber in Österreich?
Pro betreuter Person gibt es 21 Euro am Tag, die sich Bund und Länder im ersten Jahr im Verhältnis 60 zu 40 teilen. Ab dem zweiten Jahr übernimmt der Bund die vollen Kosten.

In Südtirol wird häufig die fehlende Kommunikation vonseiten der politischen Institutionen und der Organisationen, die für die Aufnahme zuständig sind, kritisiert. Frust und Wut sind die Folge. Wie kommunizieren Sie den Tirolern Ihre Entscheidungen?
Überall dort, wo ein neues Heim kommt, gibt es im Vorfeld Informationsveranstaltungen, wir haben Informationsfolder erstellt und werden von sehr vielen Vereinen unterstützt, die gemeinsam mit den Tiroler Soziale Dienste Info-Veranstaltungen organisieren. Unterstützung bei der Informationsarbeit bekommen wir auch von NGOs. Grundsätzlich finde ich, dass es sehr wichtig ist, ausführlich zu informieren: wer kommt und woher, wie lange bleiben diese Menschen, welche Chancen haben sie, warum sind sie geflüchtet. Darüber informiert zu sein, ist ganz wesentlich.

Die größte Herausforderung 2015 war, sehr schnell neue Unterkünfte für Menschen auf der Flucht zu finden.

Das Land Tirol beziehungsweise die Tiroler Soziale Dienste GmbH informiert und kommuniziert auch über eine eigens eingerichtete Webseite, wo unter anderem Informationen über dringend benötigte Kleidung oder Gegenstände zu finden sind, ebenso wie eine Spendenhotline oder Integrationsangebote. Wie ist die Idee dazu entstanden?
Wir haben erlebt, dass die Menschen in Tirol sehr interessiert sind und sehr gerne helfen wollen. Da war klar, dass es diese Plattform braucht, um die Hilfsaktionen zu kanalisieren und sicher zu gehen, dass alles gezielt verteilt werden kann.

Mit dem Beginn der wärmeren Jahreszeiten wird nun auch für heuer ein erneuter Anstieg der Migrationsflusses über das Mittelmeer befürchtet. Sollten tatsächlich mehr Menschen nach Europa kommen – was sagen Sie: Wir können das auch noch schaffen? Oder: Wir müssen die Grenzen dicht machen?
Die Genfer Konvention und die Menschenrechte sind die Grundlagen für ein freies Europa. Und deswegen finde ich, dass wir nicht nur menschenrechtlich, sondern auch verfassungs- und europarechtlich verpflichtet sind, Hilfe zu leisten. Ich finde, das ist etwas, was Europa zu leisten hat – über zwei Strategien. Einmal, den Menschen, die Schutz suchen, jetzt helfen. Und gleichzeitig in Afrika und den Herkunftsländern alles dazu beitragen, dass es dort wieder friedlicher zugehen kann. Das beginnt bei keinen Waffenlieferungen in Kriegsgebiete bis hin zu Entwicklungszusammenarbeit stärken. Mauern aufziehen ist keine Lösung.