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"Wir sind Teil des Geflechts"

Die VBB zeigen Anthropos, Tyrann (Ödipus). Ein Stück das den Klimawandel im Kleid der Ödipus-Tragödien beleuchtet - und BürgerInnen und Wissenschaften auf die Bühne holt.
Anthropos
Foto: Luca Guadagnini

Ödipus. Antigone. Eingelöste Prophezeiungen und ignorierte Warnungen. Der Berliner Theaterregisseur Alexander Eisenach nutzt für sein Stück "Anthropos, Tyrann (Ödipus)" die griechischen Tragödien um Theben, um den Klimawandel zu thematisieren. Nun wird das Stück, das 2021 an der Berliner Volksbühne uraufgeführt wurde, unter der Regie von Carina Riedl und mit der Beteiligung von WissenschaftlerInnen und anderen politisch Aktiven aus der Zivilgesellschaft für die Vereinigten Bühnen Bozen neu interpretiert.

 

Salto.bz: Das Stück Anthopos, Tyrann (Ödipus) greift Sophokles Ödipustragödien auf, um den Klimawandel zu thematisieren. Die Wahl dieser Tragödie lässt nicht Gutes erahnen für unseren Kampf gegen den Klimawandel, oder doch?

Carina Riedl: Der Text von Alexander Eisenach verschneidet die drei Ödipus-Tragödien von Sophokles, das heißt: “König Ödipus”, “Ödipus auf Kolons” und “Antigone”. Die Verschneidung dieser drei Tragödien wird dann mit dem Klimawandel zusammengedacht. Was mich von Anfang an fasziniert hat, ist, wie beides Schlaglichter aufeinander wirft. Das heißt, das eine beleuchtet das andere auf eine Art, die völlig neue Sichtweisen möglich macht.

 

Können Sie hier ein Beispiel nennen?

Ich habe mich privat immer wieder mit Ödipus beschäftigt. Der Stoff hat mich umgetrieben, fasziniert, nicht losgelassen. Gleichzeitig ließ er mich zu einem gewissen Grad aber auch unbefriedigt zurück. Die Idee, dass ein Mensch, Ödipus, schuldlos schuldig wird, indem er seine Prophezeiung erfüllt, hat eine Leerstelle in mir hinterlassen. Durch das Klimawandelthema habe ich diese Figuren, die ihren Weg sehen können, noch mal ganz anders wahrgenommen; die Tatsache, dass Ödipus am berühmten Dreiweg einen alten Mann und sein ganzes Gefolge erschlägt. Ob diese Person jetzt sein Vater ist oder nicht, ist eigentlich völlig irrelevant dafür, dass er Gewalt anwendet, weil ihm die Menschen nicht aus dem Weg gehen. Es passiert ein Mord, für den jemand die Verantwortung nicht übernimmt. Ödipus haut einfach ab.

Und in der Klimafrage ist das ähnlich?

Die Klimaforschung prophezeit uns seit 30, 40 Jahren, dass - wenn wir nicht wirklich schnell handeln - bestimmte Dinge passieren werden. Die Erderwärmung wird horrende Folgen für Lebewesen, Biotope und Ökosysteme haben und auch für uns Menschen. Wir gehen aber weiter, als wäre das nicht der Fall. Das ist genau dieselbe Grunddisposition wie in der Ödipusgeschichte: Ödipus wird prophezeit, dass er seinen Vater töten und mit seiner Mutter schlafen und Kinder zeugen werde. Indem er keine Verantwortung für sein Handeln übernimmt, löst er diese Prophezeiung Schritt für Schritt ein. Und das ist die Grundstruktur, die diese beiden Stoffe miteinander verbindet.

Was aber bedeutet es für Ödipus aber auch für uns, Verantwortung zu übernehmen? 

Es gibt einen Satz im Eisenach-Text, der lautet: “Wenn wir die Schuldfrage stellen, dann geht es immer um Individuen, ums eigene Ego. Viel weiter führt die Verantwortung”. Für mich geht es also um die Frage, wie Ödipus dieser Situation, in der er seiner Raserei, seinem Temperament unterliegt, entgegentretet. Und das ist vielleicht die Antwort auf die Eingangsfrage: Es ist für mich beinahe erlösend, diese Tragödie jetzt zu lesen, weil ich das Gefühl habe, hier hat jemand ganz genau verstanden, wie uns alles verbindet und dass wir aufhören müssen, den Menschen als Krone der Schöpfung zu verstehen. Die Parallelen, die hier zwischen der griechischen Tragödie und der heutigen Situation entstehen, sind unglaublich. Die Tragödie schafft es, eine Sprache für die Gesetze der Natur zu finden.

 

Es geht also darum, eine neue Beziehung zwischen Mensch und Natur aufzubauen. Wie könnte diese aussehen? 

Wir müssen wieder verlernen, uns Menschen als Krönung der Schöpfung zu sehen. In den letzten Jahren wurden hier neue Diskurse geschaffen, angefangen bei Donna Haraway. Es gibt viele Menschen, die gegen den Strich und ohne Tabus versuchen, neue Arten zusammen zu existieren, denken zu können. Nicht, weil man sich wünscht, dass es so wäre und deshalb auf etwas hinarbeitet. Sondern weil man erkennt - und das konnten die Griechen -, dass es dieses Band, das uns verbindet, schon gibt. Mehr als klare Trennungen gibt es Kreisläufe und Wechselwirkungen - in der Biologie genauso wie in der Soziologie. Allein unser Körper beherbergt eine Unmenge an Arten und Bakterien! Der komplette Planet wird von einem Pilzgeflecht überzogen, dass es ermöglicht, dass Bäume wachsen können, die wiederum unseren Sauerstoff produzieren. Wir sind Teil dieses Geflechts. Wir müssen es nicht bauen, sondern erkennen und lesen lernen. Und die Griechen konnten das.

Der Titel des Stückes lautet Anthropoid, Tyrann (Ödipus). Warum?

Ödipus ist das Paradebeispiel eines männlichen Alleinherrschers, der - selbst wenn er ein guter Herrscher ist und sich mit bestem Wissen und Gewissen für sein Land einsetzt - in einer Herrschaftsstruktur gefangen ist. Diese Herrschaftsstruktur hat uns an den Punkt gebracht, an dem wir heute sind. Gleichzeitig nähern wir uns einem Punkt, an dem uns der Planet wahrscheinlich ablehnen wird, wenn wir nicht lernen, mit ihm zu leben und uns als Teil des Geflechts zu denken.

 

Wie kann das Theater dazu beitragen, hier ein neues Bewusstsein zu schaffen? 

Wir versuchen uns von dieser Frage auch in der Form der Vorstellung leiten zu lassen: Der erste Teil des Abends erzählt im klassischen Theaterformat die Ödipusgeschichte und deren Verbindung zum Klimawandel. Im zweiten Teil streben wir ein klassisches Gesprächsformat an, bei dem wir zusammen mit WissenschaftlerInnen und anderen Personen aus der Zivilgesellschaft versuchen, einen Raum zu schaffen, um Fragen rund um die Klimakrise und die Gefühle - auch die Ohnmachtsgefühle -, die damit verbunden sind, aufzuarbeiten. Diese Räume, Bürgerbiotope, sind unglaublich wichtig, um sich ein nachhaltiges Koexistieren, vielleicht aber auch das Teilen eines gemeinsamen Raumes vorstellen zu können. Im Anschluss an den Theaterabend werden an verschiedenen Tagen Zukunftsgespräche im Kapuzinergarten stattfinden. Hier werden wir versuchen, gemeinsam mit den TeilnehmerInnen ein Gespräch über die Zukünfte von Stadt, Natur, Gesellschaft und deren Zusammenspiel zu entwickeln.

Die Rolle der Wissenschaft könnte mit jener der Seherinnen und Orakel der griechischen Tragödie verglichen werden: eine Rolle, die häufig ignoriert oder - oder wie in der Tragödie der Antigone - zu spät erhört wurde. Kann das Theater einen Weg schaffen, um wissenschaftliche Erkenntnisse spürbar und handelbar zu machen?

Was Theater kann, ist einen Raum schaffen, in dem das, was die WissenschaftlerInnen seit 30 Jahren einhellig sagen, eher gehört wird. Das Theater kann dazu beitragen, dass das Gehörte nicht nur im Kopf, sondern auch auf anderen Ebenen verarbeitet wird.

 

Das Stück wurde 2021 an der Volksbühne in Berlin erstaufgeführt. Wie wurde das Stück nun für die Vereinigten Bühnen Bozen adaptiert? 

Der Grundgedanke, das heißt die Verbindung zwischen Mensch und Natur, zwischen der griechischen Tragödie und dem Klimawandel bleibt. Während in Berlin die Rolle der Wissenschaft aber mit einer einzigen Orakelfigur Pythia gelöst wurde, versuchen wir mehrere Disziplinen miteinzubeziehen. Also nicht nur die Naturwissenschaften, sondern vor allem auch die sozialwissenschaftlichen Disziplinen. Dafür arbeiten wir beispielsweise mit der Meereswissenschaftlerin Silja Klepp zusammen, die auf Kiribati - eine der Inseln, die aufgrund des Anstiegs des Meeresspiegels verschwinden wird - neue Formen von Staatsbürgerschaft erforscht. Ein Team der Eurac, das zum Thema “care” forscht, ist dabei. Aber auch Marc Zebisch, Sonja Gantioler, Georg Kaser und der Fotograf Gianni Bodini, den wir den Seher nennen. Er bestreitet seit 40 Jahren die Wanderung, bei der Schafe vom Schnalstal ins Ötztal getrieben werden. Dabei ist es ihm sozusagen passiert, den Gletscherrückgang zu dokumentieren. Er hat auf diese Weise schon vor Jahren etwas beobachtet, das manche immer noch nicht in ihren Horizont eingebaut haben.

Ein anderer Unterschied zum Stück in Berlin ist der, dass wir den Stoff aus der Perspektive der Antigone zeigen wollen und deshalb ausschließlich mit Frauen besetzen. Durch das Gesprächsformat wird die Bozner Bevölkerung zudem selbst zur Protagonistin!