Kultur | Sozialphilosophie

Lob der Identitätspolitik

Ein Gastbeitrag aus der Zeitschrift "Kulturelemente" über Identitätspolitik und Demokratie.
Regenbogen
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  • Identitätspolitik gefährdet die Demokratie. Das ist die zentrale Botschaft der unzähligen Bücher, die in der letzten Zeit gegen Identitätspolitik publiziert wurden. Ich argumentiere für die gegenteilige These: Identitätspolitik ist notwendig für die kontinuierliche Verbesserung unserer Demokratie.
    Identitätspolitik ist die politische Praxis marginalisierter Gruppen, die sich in Bezug auf eine kollektive Identität gegen ihre Benachteiligung durch Strukturen, Kulturen und Normen der Mehrheitsgesellschaft wehren. Es geht hier also um die politische Kritik von Ausschlüssen, Diskriminierungen und Ungleichbehandlungen. Identitätspolitik orientiert sich damit am demokratischen Versprechen von Freiheit und Gleichhalt für alle. Der normative Hintergrund von Diskriminierungskritik ist dieser Universalismus der gleichen Freiheit, und zwar sowohl begrifflich als auch empirisch. Es geht also um die Konkretisierung von den universalistischen Normen, die eigentlich das Fundament unserer Gesellschaftsordnung sind, aber nicht verwirklicht sind.
     

    Kurz: Identitätspolitik versorgt den demokratischen Prozess also mit einem Wissen, das ihm sonst verborgen bliebe; sie korrigiert blinde Flecken. 


    Wichtig ist dabei das Wissen: Die starke These einer Notwendigkeit von Identitätspolitik hängt damit zusammen, dass Diskriminierungen aus der Perspektive der Benachteiligten besser beschrieben und kritisiert werden können, als aus der Perspektive der Mehrheitsgesellschaft.
    Ein Beispiel: Vergewaltigung in der Ehe war in Deutschland bis 1997 legal, weil es das in der patriarchalen Vorstellungswelt gar nicht gab. Es ist wesentlich das Ergebnis des feministischen Kampfes gegen diese falsche Vorstellung, der den Weg für den politischen Fortschritt geebnet hat. Es war nötig, dass die Frauen gemeinsam ihren Standpunkt dazu entwickelt und artikuliert haben und in den politischen Prozess eingebracht haben. Die damals männlich dominierte Debatte wäre von selbst kaum auf die Idee gekommen, dass hier überhaupt ein Problem liegt.
    Kurz: Identitätspolitik versorgt den demokratischen Prozess also mit einem Wissen, das ihm sonst verborgen bliebe; sie korrigiert blinde Flecken. Deshalb brauchen wir sie, deshalb ist sie notwendig, um zu konkretisieren, was Freiheit und Gleichheit überhaupt praktisch bedeuten und um sie tatsächlich zu verwirklichen.

  • Konstruktivismus statt Essentialismus

    Wie genau funktioniert Identitätspolitik? Oft wird ihr vorgeworfen, essentialisierend zu verfahren und deshalb spalterisch zu sein. Identitätspolitik funktioniere demnach darüber, Identitäten auf eine bestimmte Essenz – ein Wesen, einen Kern – festzuschreiben. 
    Tatsächlich ist Identitätspolitik nicht festschreibend und lähmend, sondern sie schafft Neues, indem sie Identitäten konstruiert und transformiert. Identitätspolitik schafft damit auch neue Erkenntnismöglichkeiten zu einem besseren Verständnis von Diskriminierung, das sie dann in demokratische Institutionen einspeisen kann. Es lassen sich drei Elemente identitätspolitischer Praxis unterscheiden: Subjektivierung, Artikulation und Repräsentation.
    Der Begriff der Subjektivierung geht auf Michel Foucault zurück, der damit die soziale Konstitution, also die Verfasstheit und Herstellung, von Identität durch gesellschaftliche Macht beschreibt. Ein Beispiel dafür ist Heteronormativität: Die Vorstellung, dass es zwei biologische Geschlechter gibt, mit denen ein festes Set von sozialen Rollenerwartungen zusammenhängt, zu denen auch gegengeschlechtliches Begehren zählt. An alle Menschen wird diese Erwartung herangetragen, mehr oder weniger repressiv. Menschen können von dieser dominanten Subjektivierung innerlich gefangen sein und leiden, weil sie nicht dazu passen.
    Aber Normen sind nicht in Stein gemeißelt; alternative Arten der Subjektivierung sind möglich. Identitätspolitik ist ein gesellschaftliches Labor für neue Subjektivierungen, die es erlauben, das Korsett der dominanten Normen zu sprengen. Sie ist derjenige gesellschaftliche Ort, an dem kritische Subjektivierungen eine Distanznahme und Veränderung von dominanten Normen ermöglichen und zur Konstruktion von neuen Identitätsformen führen. Und sie ist der Ort, wo mit diesen Formen experimentiert wird und die mit ihnen einhergehenden Folgeprobleme diskutiert werden.
    Ein Beispiel für kritische Subjektivierung durch Identitätspolitik ist die Praxis des consciousness raising im Feminismus der 60er und 70er Jahre – also der gemeinsamen Bewusstwerdung über die spezifische Position der Frau in der patriarchalen Gesellschaft. Die Methode beruht auf dem Erfahrungsaustausch unter Frauen und dient dazu, zusammen aktiv an der politischen Identität als Frau zu arbeiten, sie mithin (neu) zu konstruieren. 
    Consciousness raising reagiert auf die Problematik des Wissens, analog zum Marxismus und der Idee eines fehlenden Klassenbewusstseins der Arbeiterklasse: Obwohl das Leben als Frau ein feministisches Bewusstsein grundsätzlich ermöglicht, ist das Problem, dass viele Frauen angepasst an die patriarchale Ideologie leben. Genau hier setzt consciousness raising ein und realisiert das im Leben als Frau vorhandene Potential der gemeinsamen Konstruktion einer politischen Identität als Frau.
     

    Identitätspolitik funktioniert also nicht über das Festschreiben von schon Bestehendem, sondern über die permanente Transformation und Neukonstruktion von Identität.


    Identitätspolitik als Subjektivierung zu beschreiben heißt auch: Identitätspolitik ist selbst eine Macht, die auf Subjekte wirkt und sie formt. Damit gibt es auch ein gewisses Essentialismuspotential, also die Möglichkeit von Unterwerfung unter starre Normen. Doch dieses Essentialismuspotential ist kein grundsätzliches Essentialismusproblem, wie von den Identitätspolitik-Kritiker*innen behauptet wird. Es lässt sich daraus also keine Position gegen Identitätspolitik ableiten. Denn ohne identitätspolitische Subjektivierungen wäre die Entstehung von kritischer Subjektivität grundsätzlich erschwert, was zu einer Erlahmung der demokratischen Auseinandersetzung führen würde. Essentialistische Festschreibungen sind ja gerade der modus operandi von hegemonialen Subjektivierungen, die durch Identitätspolitik aufgebrochen werden können. Und im Gegensatz zu dominanten Subjektivierungen ist die Kritik von sozialen Normen ein fester Bestandteil identitätspolitischer Subjektivierung – entsprechend kann man auch empirisch beobachten, dass identitätspolitische Gruppen ihre eigenen Normen und eventuelle Verhärtungen kontinuierlich kritisch diskutieren.
    Artikulation wird die Erarbeitung einer gemeinsamen Identität genannt, durch Debatten zum eigenen Selbstverständnis und zur politische Positionsbildung. Hierbei wird auch der Bezug zum Universellen hergestellt, denn die Anklage von Diskriminierung wird artikuliert durch die universellen Werten der Gleichheit und Freiheit. Bei Repräsentation geht es um die Darstellung der Identität und das organisierte Wirken in die Mehrheitsgesellschaft. Auch Repräsentation ist notwendig umstritten, denn sie ist selbst Teil der Identitätskonstruktion. Erst durch ihre Repräsentation können Identitäten als ein Zusammenhang begriffen werden und somit entstehen. 
    Identitätspolitik funktioniert also nicht über das Festschreiben von schon Bestehendem, sondern über die permanente Transformation und Neukonstruktion von Identität. Identitätspolitiken orientieren sich dabei an den universalistischen Werten der Gleichheit und Freiheit und speisen Konkretisierungen dieser Werte in den politischen Diskurs ein. Ohne Identitätspolitik gäbe es diesen Beitrag nicht, der öffentliche Diskurs und die gesellschaftlichen und politischen Institutionen wären nicht in der Lage, adäquat auf Diskriminierung zu reagieren und die Gesellschaft deshalb noch stärker von gemeinschaftszersetzender Ungleichheit durchzogen. Dies ist der Grund, warum Identitätspolitik notwendig für die kontinuierliche weitere Demokratisierung der Demokratie ist. 

  • Universalismus oder Fundamentalismus?

    Mein Argument ist nicht nur beschreibend, sondern auch normativ: Es ist wünschenswert, wenn sowohl politische Institutionen als auch der öffentliche Diskurs identitätspolitischen Positionen zuhört, mit anderen Worten, sie privilegiert.
    Und hier lauert die Gefahr einer maximalistischen Interpretation solcher epistemischen Privilegierung, sogenannter „positionaler Fundamentalismus“, also nur noch zählt, wer etwas sagt, und nicht mehr, was überhaupt gesagt wird. Hierin liegt die oft vorgebrachte Befürchtung, dass Identitätspolitik die Vernunft aushebele. 
    In der Anti-Identitätspolitik-Literatur wird deshalb eine Rückkehr zu einer universalistischen Position stark gemacht, um dem potentiellen identitätspolitischen Fundamentalismus und Relativismus etwas entgegenzusetzen. Doch ein klassischer Universalismus funktioniert nicht, denn er ist selbst eigentlich partikularistisch – ein falscher Universalismus. Und dadurch, dass er sich auch noch als Universalismus verkauft und damit besonders hohe Wahrheitsansprüche stellt, wird er fundamentalistisch und vollführt den Diskursabbruch, den er anderen vorwirft, selbst. Dieses Problem lässt sich gut an Susan Neimans Pamphlet für den Universalismus, „Links ist nicht woke“, sehen. Sie bezeichnet sich als Universalistin und adelt damit ihre ganz eigenen, idiosynkratischen politischen Bewertungen, während sie die „Woken“ als Anti-Universalisten brandmarkt und es deshalb auch nicht für nötig hält, sich genauer mit ihren Argumenten zu befassen.
    Das heißt: Wir können nicht zum klassischen Universalismus zurück. Im Gegenteil, ein gewisser Partikularismus ist notwendig, um das Versprechen des Universalismus zu konkretisieren und besser einzulösen. Der Weg zum Allgemeinen führt über das Besondere. Es geht mir um einen Universalismus von Unten oder von den Rändern.
    Der Hintergrund dieser Position ist die zeitgenössische Epistemologie, insbesondere Standpunkttheorien, die untersucht haben, wie Wissen erzeugt wird. Menschliches Wissen – auch wenn wir uns noch so sehr um Objektivität bemühen – ist immer auch von den sozialen Positionen geprägt, von denen aus es artikuliert wird. Wer eine Reise nach Rom plant, würde Freunde aus Rom nach lokalen Tips fragen und nicht Freunde aus Hamburg. 
    Ein produktiver Umgang mit dieser Situiertheit bedeutet, den sozialen Standpunkt zu reflektieren und mitberücksichtigen, unterschiedliche Standpunkte in einen Dialog bringen und dadurch ihre jeweiligen Blindstellen korrigieren. Und Unwissen in Bezug auf Diskriminierung, das vor allem die Mehrheitsperspektive prägt, sollte durch eine besondere Beachtung der Standpunkte von Betroffenen korrigiert werden.
    Warum folgt aus dieser Position kein Fundamentalismus? Erstens sind Standpunkte das Resultat von gemeinsamer Arbeit, von gemeinsamen Austausch und Kommunikation, keine individuelle Setzung. Das wurde schon beim Beispiel des feministische consciousness raising deutlich. Zweitens geht es nicht nur um intersubjektiv geteilte Erfahrungen, sondern sie werden gleichsam durch kritische Wissenschaften objektiviert. Identitätspolitische Standpunkte stellen insofern ein objektives, von allen verstehbares Wissen über Diskriminierung bereit – sie sind ein Kommunikationsangebot, kein Kommunikationsabbruch. 
     

    Es muss kontinuierliche Demokratisierung sein, weil immer umstritten bleibt, was vernünftig ist. 


    Doch die Wirkmächtigkeit vernünftiger Argumente ist wegen der begrenzten Perspektive der Mehrheitsgesellschaft oft begrenzt. Deshalb können Machtmittel nötig sein, um der Vernunft auf die Sprünge zu helfen, wie Proteste oder das berüchtigte Canceln. Aber auch das ist kein Relativismus, denn nur solche identitätspolitischen Positionen können langfristig Unterstützung durch einige Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft finden, wenn sie verünftig sind. Es geht also bei Identitätspolitik durchaus um eine Kombination aus Macht und Vernunft – doch das ist eben keine Absage an die Vernunft, sondern der politische Prozess ihrer Konkretisierung auch gegen die ihr immanenten Blockaden. 
    Identitätspolitische Demokratisierung ist so notwendigerweise ein dynamisches Modell. Es muss kontinuierliche Demokratisierung sein, weil immer umstritten bleibt, was vernünftig ist. Dass das Modell plausibel ist, wird besonders deutlich durch den Blick zurück: Vor 200 Jahren war aus der Perspektive der universellen Vernunft Sklaverei selbstverständlich, vor 30 Jahren waren Schwule nach dieser universellen Vernunft der Abschaum der Gesellschaft, und Frauen haben ihre Standpunkte auch erst nach und nach einspeisen können – die Kritiker der Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe konnten sich auf die damals allgemeinen Vernunftmaßstäbe (Schutz der Privatsphäre in der Familie) berufen.
    Letztlich geht es darum, auf diese vergangenen Emanzipationskämpfe zu blicken und eine gewisse epistemische Bescheidenheit für seine eigene soziale Position im hier und jetzt daraus abzuleiten. Eine Offenheit dazu, dass man persönlich, aber auch wir als Gesamtgesellschaft, noch viel von Identitätspolitiken lernen können und sollten.

  • Identitätspolitik und die liberale Demokratie

    Zum Ethos der liberalen Gesellschaft gehört der Schutz und die Gleichberechtigung von Minderheiten, die Identitätspolitik einfordert und konkretisiert. Vor dem Hintergrund des zunehmenden Rechtsruck und autoritären Antiliberalismus ist wichtig festzuhalten: Identitätspolitik und unsere liberale und offene Gesellschaft sind zwei Seiten einer Medaille. Sie gehören konzeptionell und auch historisch zusammen.
    Doch dass die Rechtsextemen jetzt bei Wahlen so erfolgreich sind, liegt auch daran, dass die Anti-Identitätspolitik in der Mitte der Gesellschaft Verbreitung fand. Auch dadurch wurden diskriminierende Positionen salonfähig und der Widerstand gegen rechts geschwächt. Umso wichtiger ist es heute, dass Identitätspolitik auch von der Breite der Gesellschaft offensiv gelobt wird – und zwar auch zur Verteidigung der liberalen Demokratie.

  • Dr. Karsten Schubert ist Dozent für Politische Theorie und Philosophie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Seine Arbeitsschwerpunkte sind zeitgenössische kritische politische Theorie und Sozialphilosophie: Radikale Demokratie, Rechtskritik, Michel Foucault, Biopolitik, Queer- und Schwulentheorie sowie Intersektionalität. Aktuell forscht er an der Schnittstelle von radikaldemokratischem Denken und Identitätspolitik. Er promovierte in Philosophie an der Universität Leipzig. Sein erstes Buch „Freiheit als Kritik. Sozialphilosophie nach Foucault“ (2018, auf Deutsch) erschien mit transcript.

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Martin Daniel So., 23.03.2025 - 18:52

"Vor 200 Jahren war aus der Perspektive der universellen Vernunft Sklaverei selbstverständlich, vor 30 Jahren waren Schwule nach dieser universellen Vernunft der Abschaum der Gesellschaft, und Frauen haben ihre Standpunkte auch erst nach und nach einspeisen können – die Kritiker der Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe konnten sich auf die damals allgemeinen Vernunftmaßstäbe (Schutz der Privatsphäre in der Familie) berufen."
All diese Errungenschaften sind im Sinne des Universalismus und m.E. auch durch ihn erreicht worden. Wenn alle Menschen gleiche Rechte haben, gibt es konsequenterweise keine Sklaverei, keine ungestrafte Vergewaltigung in der Ehe, keine Verachtung von Homosexuellen. Die Civil-Rights-Bewegung von M.L. King war ein universalistischer und keine identitätspolitischer Kampf (was vielleicht auch zu ihrem Erfolg beigetragen haben kann).
Sie schreiben: "Zum Ethos der liberalen Gesellschaft gehört der Schutz und die Gleichberechtigung von Minderheiten". Dieser Schutz ist ebenfalls viel eher im Sinne des Universalismus, denn was Sie ausblenden, ist der weniger liberale Kern der (amerikanischen)-Identitätspolitik: "affirmative action", Sprachvorgaben, gehypte hasserfüllte Empörungswellen, moralische Aburteilungen und Vorverurteilungen in der realen und digitalen Öffentlichkeit, Überlegenheitsgehabe der intellektuellen Elite gegenüber dem einfachen Bürger, speziell der Landbevölkerung, rigide Einteilung der Bürger in Opfer und Täter.
Ob ethnische Quoten an Unis liberal sind, darüber ließe sich diskutieren. Tatsache ist, dass die starren Quoten nicht immer die Verdienstvollsten oder Leistungsfähigsten zum Zuge kommen ließen/lassen, sondern jene mit dem größeren Opferstatus. Leistungsstarke Asian Americans waren mitunter die Leidtragenden.
Die Sprachvorgaben, der Bevölkerung vermittelt durch Universitäten, Leitmedien (auflagenstarke, progressive Tageszeitungen und alle reichweitenstarken TV-Sender mit Ausnahme von FoxNews) und linke Politik, haben im Rückblick die Gesamtbevölkerung wohl mehr gegängelt als Minderheiten genützt und gerade die demokratische Partei immer mehr als weit entfernt von der eigenen Lebenswirklichkeit wahrnehmen lassen. Wenn Alexandra Ocasio-Cortez, der Superstar des linken Flügels, den Begriff "Latinx" verwendet, um Angehörige aller angeborenen und gefühlten Geschlechter ihrer eigenen Ethnie im weiteren Sinne (Hispanics) zu bezeichnen, dann wurde das möglicherweise von den Hispanics selbst nicht unbedingt als liberal im europäischen Sinne empfunden, sondern eher als Andeutung eines sozialistischen Umerziehungsversuchs.
Identitätspolitik ist zudem auch deswegen nicht liberal, weil es allen Angehörigen einer ausgemachten Opfergruppe einen bestimmten Status zuschreibt, ob diese das teilen oder nicht. Wer von ihnen ausschert wurde/wird entweder als Mitläufer der Unterdrücker angesehen oder als zu dumm, um die eigene Lage zu verstehen. Die Gehässigkeit, mit der identitätspolitische Aktivisten Abweichler aus dem eigenen Lager begegneten, ausgrenzten und ins rechte Eck stellten, ist ebensowenig liberal und hat viel zur oft hervorgehobenen Polarisierung beigetragen, dazu, dass Bürger verschiedener Meinung nicht mehr im Stande sind, eine gemeinsame Kommunikationsbasis zu finden. Letztlich wurden dadurch viele Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft zu radikaleren Positionen rechts der Mitte gedrängt, der große Zulauf für Jordan Petersen, Joe Rogan oder Andrew Tate das Vorfeld für jenen der MAGA-Republikaner darstellend. Es ist nicht völlig abwegig, in Erwägung zu ziehen, dass es den aktuellen Präsidenten ohne die von der Woke-Bewegung geführten Bevormundungsaktionen und Kränkungen nicht geben würde.
Kränkungen, die u.a. dadurch hervorgerufen wurden, dass den Leuten vermittelt wird, das seit den 1950er-Jahren vorherrschende Lebensmodell, demzufolge es Ziel war, sich über die eigene Arbeit etwas aufzubauen (typischerweise Karriere, Familie, Haus) und sich so zu verwirklichen, wäre nichts mehr wert. Schließlich wäre man als weißer angelsächsischer Protestant (WAP) Inbegriff des Täter- oder Unterdrückertyps, der sich seiner Privilegien zu vergewissern habe und öffentlich Buße tun müsse und zwar in der Form, dass er sich aktiv für Minderheiten einsetze, diesen das öffentliche Forum überließe und sich in Verzicht und Selbstzurücknahme übe, um den anderen den Vorrang einzuräumen. Was in der ursprünglichen Intention löblich gewesen sein mag, kann im konkreten Lebensalltag dazu führen, dass Kinder von Arbeitern oder Beamten an Unis oder bei Jobangeboten das Nachsehen haben, weil hochpriviligierte weiße Großstadtakademiker die Idee durchgesetzt haben, dass Unrecht aus vergangenen Zeiten gut gemacht werden muss. Ob die Verlegung von Transfrauen in kalifornische Frauengefängnisse mit all ihren Folgeerscheinungen da gegenwirken konnte, ist zu bezweifeln. Ebenso, ob die höhere Gewichtung der Rechte von Transfrauen auf Selbstbestimmung in der Ausübung von Wettkampfsport (wiederum zur Wiedergutmachung von vergangenem Unrecht) gegenüber den Rechten der vielen Konkurrentinnen auf einen fairen Wettbewerb in diesem Sinne wirken mochte.

So., 23.03.2025 - 18:52 Permalink
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Oliver Hopfgartner So., 23.03.2025 - 20:57

Mein Zugang zu dem Thema lautet: Die kleinste zu schützende Minderheit ist das Individuum. Alle Menschen haben die gleichen Rechte. Wenn man die Menschen wieder in Grüppchen einteilt und dann gewisse Grüppchen im Sinne der Identitätspolitik "privilegiert", wie es der Autor hier selbst schreibt, was hat das dann noch mit Gleichheit zu tun?
Erzeugt man damit nicht erst recht eine hierarchische Gesellschaft, in der die scheinbar unterdrückteste Gruppe (wer entscheidet das überhaupt?) an die Spitze gesetzt wird und der alte weiße Mann ganz unten hingesetzt wird, aufgrund von Taten, die er selbst nicht begangen hat, weil sie schon vor 200 Jahren passiert sind?

Außerdem gebe ich zu bedenken, dass Gruppierungen wie die Identitären auch Identitätspolitik betreiben. Sie nennen das dann halt Ethnopluralismus, es ist aber letztlich derselbe Wein in anderen Schläuchen.

Da lobe ich mir doch eher den klassischen Liberalismus, der jedem Menschen seine Rechte zugesteht, ganz unabhängig davon ober nun einer mehr oder weniger schützenswerten Minderheit angehört.

So., 23.03.2025 - 20:57 Permalink
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Hartmuth Staffler So., 23.03.2025 - 21:56

Antwort auf von Oliver Hopfgartner

Der Haken an der Sache ist, dass gerade der klassische Liberalismus von oben herab dekretieren will, was die jedem Menschen zustehenden Rechte sind, und die müssen für alle gleich sein. Nun ist aber die absolute Gleichbehandlung vollkommen unterschiedlicher Gruppen mit ebenso unterschiedlichen Bedürfnissen ist eine extreme Diskriminierung.

So., 23.03.2025 - 21:56 Permalink