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Das Vinschger Lügen-Symposium

In der Arunda 37 vom Jahr 1994 erzählt Gianni Bodini Märchen aus der Churburg, animiert von den Tierdarstellungen im Arkadengang des Schlosshofes.
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Die Bewohner des Vinschgaus - man weiß es in ganz Tirol – stehen im Ruf, Schwierigkeiten mit der Wahrheit zu haben. Kurzum, sie lügen wie gedruckt!

In alten Zeiten, so wird berichtet, trafen sich die Vinschger sogar einmal im Jahr, um Geschichten zu erzählen, die allesamt erstunken und erlogen waren. Anschließend wurde dann der Erfinder der phantasievollsten Lüge zum Lügenkönig ernannt.

So kam es, dass sich die Tiere diese Tales entschlossen, die Menschen nachzuäffen, und sie beriefen ein Symposium ein, bei dem die Geladenen um die Wette zu lügen hatten. Am festgesetzten Tag traf sich alles, was lügnerisch Rang und Namen hatte, in einem adeligen Ansitz, dessen Besitzer gerade außer Landes waren. Pförtner dieses noblen Hauses war der Pfau, über dessen zwielichtige Vergangenheit recht viel gemunkelt wurde. Er stamme aus dem Orient und soll angeblich wegen Mittäterschaft bei einem Apfeldiebstahl aus dem Garten Eden verbannt worden sein. Doch sein selbstsicheres und adeliges Auftreten hatten es ihm ermöglicht, diese verantwortungsvolle Aufgabe zu finden. Er bat also die Geladenen höflichst darum, an der wertvollen Ausstattung des Hauses keinen Schaden anzurichten. Es versteht sich von selbst, dass die diebische Elster gar nicht erst eingeladen wurde.

Als alle schließlich an der reich gedeckten Tafel saßen, begann das Erzählen. Als erster war der Windhund an der Reihe: „Wie ihr ja alle wisst, bin ich der Schnellste unter euch. Nun aber hört, was mir vor einigen Tagen zugestoßen ist: Um mir ein wenig die Beine zu vertreten, lief ich über die Plawenner Wiesen. Es ist dies eine herrlich grüne Weite – wenn der Wind drüber streicht, bewegen sich die Gräser wie die Wellen des Meeres. An dem Tag war ich besonders gut gelaunt und es ging richtig zügig voran. Da kam es mir plötzlich vor, als hätte mein Schatten Schwierigkeiten, mir zu folgen. Ich beschleunigte noch ein bisschen und da geschah es, so unglaublich es klingen mag: Mein Schatten war nicht mehr imstande mitzuhalten! Allmählich fiel er zurück, bis ich ihn ganz aus den Augen verlor. Außer Atem und ohne mich, seine gewohnte Begleitung, wird er sich wohl irgendwo verirrt haben. Zu Hause angekommen, wartete ich noch eine ganze Weile auf ihn, doch es war vergebens. Um nicht wie ein schattenloses Gespenst auszusehen, muss ich nun immer ein Kleid anziehen, um mindestens von dessen Schatten begleitet zu werden. „

Buhrufe und viel Spottgelächter zogen den Schlussstrich unter des Windhundes Lügengeschichte.

 

Nun kam die Sau dran: „Fürwahr, eine gewaltige Geschichte“, begann sie und hielt sich dabei ihren Bauchspeck vor Lachen, „doch hört euch nun die meine an. Wir Schweine wissen wohl, dass wir ausschließlich zu dem Zweck gezüchtet werden, als Speck, Schinken und Würste auf den Tischen zu landen. Dies ist halt unser Schicksal“, seufzte die Sau niedergeschlagen, „doch früher einmal erging es uns bedeutend besser. Wir wurden mit denselben Speisen wie unsere Herrschaften gefüttert. Während der warmen Monate durften wir in die Sommerfrische gehen. Ich war mit meiner Familie immer auf einer wunderschönen Alm oberhalb von Laas, direkt auf den Hängen des Saurüssels, wo wir glückliche Tage verbrachten. Neunundneunzig Tage waren es. Denn wären wir ganze hundert Tage dort oben geblieben, hätten wir in die gräfliche Stammrolle aufgenommen werden müssen. Dies wäre mit vielen Privilegien verbunden gewesen: Schlachtung nur alle Schaltjahre, sechs Wochen Karenzurlaub nach dem Werfen und dergleichen Annehmlichkeiten mehr, die uns die Bauern nicht zugestehen wollten. So fristeten wir unser Leben in Erwartung darauf, zu Speck verarbeitet zu werden, jenem berühmten und so schmackhaften Erzeugnis, das zu gleichen Teilen rot und weiß ist, genau wie unsere Landesfahne.“ Die Sau schloss traurig ihre Rede. Es folgte betretenes Schweigen, bis sich endlich eine Stimme erhob: „Und worin besteht die Lüge?“

Darauf der Fuchs: „Wir wissen doch alle, dass sie die letzte Specksau in der ganzen Grafschaft ist. Wie kann es dann noch einheimischen Speck geben?!“ Nachdenkliches Schweigen folgte dieser Bemerkung, das nur vom Schnabelgeschmatze des Ibis unterbrochen wurde, der flegelhaft an seinen Würmern und Blindschleichen weiterkaute.

 

Nun war endlich der Wolf an der Reihe, der sich gerade, um seinem Ruf gerecht zu werden, über einen riesigen Bratenteller hermachte. „Liebe Freunde, lasst mich diese Gelegenheit dazu nutzen, endlich einmal reinen Tisch zu machen mit gewissen Vorurteilen, die mich betreffen und betroffen machen. Schon seit geraumer Zeit verbreiten die Märchenschreiber und Hofsänger Unlauteres und Niederträchtiges über meinen unstillbaren Appetit. „ Während er sich gerade eine weitere Hühnerkeule in den Rachen schob, hielt er ein Schriftstück in die Höhe.

„Ich möchte weder auf die drei Schweinchen noch auf die sieben Geißlein eingehen. Ich will mich damit begnügen, lediglich die Sache mit dem Rotkäppchen zu klären. Ich kann mich noch sehr gut an jenen Tag erinnern. Es war schwül und heiß. Mir war nicht besonders wohl, ich hatte starke Schwindelgefühle …. Irgendwann mitten im Wald begann das Rotkäppchen dann Pilze zu suchen, wobei ich ihm mit einem gewissen Abstand folgte, um ja nicht ins Zwielicht zu geraten – von wegen Anbiederung und Aufdringlichkeit und so -, was mir dann ja auch tatsächlich vorgeworfen wurde. Am Hause der Großmutter angelangt, wollte ich mich verabschieden, doch das Rotkäppchen wollte um alles in der Welt, dass ich mit ihm hinein kam. Da mir ja schwindlig war, ließ ich mir von der Oma einen Kräutertee zubereiten. Kaum hatte ich einen Schluck getrunken , fiel ich erschöpft aufs Bett und schlief auf der Stelle ein. Von wegen Rotkäppchen und die Großmutter mit Haut und Haar verspeisen! Im Gegenteil, gerade rechtzeitig wachte ich auf, um mich mit einem Sprung durchs Fenster vor den Jägern zu retten, die von den beiden mittlerweile gerufen worden waren, um mir das Fell über die Ohren zu ziehen. Rotkäppchen wollte sich nämlich von ihrer Oma , die ja bekanntlich Schneiderin war, eine Pelzjacke aus meiner Haut nähen lassen. So und nicht anders ist die Geschichte gelaufen. Ich und ein böser Wolf, dass ich nicht lache! Aber durch all diese Schauermärchen ist es wirklich fast gelungen, uns arme Wölfe auszurotten.“

Am Ende dieser Erzählung waren sich die Anwesenden unschlüssig, ob sie pfeifen oder klatschen sollten.

Es war schon spät geworden. Nachdem sich die Geladenen noch einen Holundersirup als Verdauungstrunk genehmigt hatten, waren sie allesamt müde und gingen nach Hause. Dabei vergaßen sie ganz darauf, der besten Geschichte den angekündigten Preis zu verleihen. Aber solltet ihr unbedingt einen Sieger haben wollen, dann entscheidet euch selbst für einen.