Kunst | Fotografie

Um Auge

Mit „Loss of Vision“ sieht Mykola Ridnyi im Foto Forum hin statt weg: Auf Polizeigewalt, ihre alte Nachbarschaft in Kharkiv und die selektive Wahrnehmung eines Krieges.
Blind Spot, Loss of Vision
Foto: Mykola Ridnyi
  • Wussten Sie, dass immer mehr Demonstrant:innen von „nichttödlichen“ Waffen Augenverletzung erleiden? Im Erdgeschoss der von Sabine Gamper kuratierten Ausstellung des ukrainischen Medien- und Fotokünstlers Mykola Ridnyi werden wir durch „Speck in the Eye“ dazu aufgeklärt.  Aus dem Englischen übersetzt bedeutet „speck“ in etwa Fremdkörper oder Fleck im Auge und hat nichts mit „Speck“ oder „bacon“ zu tun. In einem Mix aus rot-weißen Schauplatten von Augenverletzungen (eine zumindest ästhetische Verwandtschaft zum Speck) und einem 15-minütigem Audio, das über Kopfhörer abgespielt wird, zeigt sich das Werk zweigestaltig. Die Klangspur führt uns in verschiedene Länder, vom sogenannten globalen Süden, nach Indien und Hongkong, bis wieder zurück nach Frankreich, zur Gelbwestenbewegung. Als Radiogerät mit analogem Rauschen beim Senderwechsel, jedoch auch mit globaler Reichweite werden wir vom Audio nach und nach über Nachrichtenbeiträge und auch authentische Protestmusik in einen traurigen Trend eingeführt, der durch immer schärfere „Nichttödliche Wirkmittel“ (so das Beamtendeutsch für diese Gruppe von Waffen) zunimmt. Dabei agieren Polizisten zum Teil auch mit mutwilliger Absicht, wie im Falle des ägyptischen Polizisten, der als „Eye Sniper“ global Blicke auf sich zog und als einer von wenigen Fälle mit einer Verurteilung – zu drei Jahren Haft – endete. Gleichzeitig findet sich im Werk aber auch mehrfach der Hinweis auf eine Solidarisierung mit den versehrten Demonstrant:innen und der Etablierung der Augenklappe als lokalem und globalem Symbol.

  • The District: Am alten Fußballplatz hält ein Foto fest, dass hier einst Kriegsgerät vergessen lag. Mittlerweile ist das Flugzeug fort, der Krieg ist dagegen in einer bedrückenden Stille allgegenwärtig. Foto: Mykola Ridnyi

    Im unteren Stock des Foto Forum gehen wir von einer audio-gestützten Vogelperspektive zu Detailansichten und Parallelismen über. Zentral zu nennen ist sicher die rezente Videoarbeit „The District“, in der der 1985 in Kharkiv geborene Künstler Einblick in Vergangenheit und Gegenwart jenes periphere Viertels zwischen Betonriesen und Brachflächen gibt, in dem er selbst aufgewachsen war. Ab 2022 kam es hier durch russischen Beschuss zu großen Schäden und die Bevölkerung zog vielfach fort. Das Viertel liegt, mehr trostlos als verwunschen im Dornröschenschlaf. Die Aufnahmen für das 20-minütige Video musste Ridnyi delegieren, neben Anweisungen steuert der Künstler Erzählungen aus der Erinnerung bei, sowie Überblendungen, die operativ im Bild eingesetzt oder aus diesem entfernt werden: wie etwa wie ein altes Kampfflugzeug, dass auf dem Fußballplatz lag und von Kindern im Spiel geschätzt wurde. Eines Tages verschwand es, wohl zum Schrotthändler und findet nun als Silhouette im Video seine Rückkehr. Ein wenig sind diese kleinen Eingriffe am Kamera-Auge so, als würden sie unseren eigenen Blick überzeichnen und uns dem Künstler annähern, der mittlerweile in Berlin lebt und arbeitet.

    In Schaukästen finden sich – quasi als Ergänzung zu den Überzeichnungen der Reihe „Blind Spot“ an den Wänden, in den Mykola Ridnyi aufgelesene Konfliktbilder bis auf Details einschwärzt – auch Diagramme und kurze Texte, die verschiedene Augenleiden beschreiben. In Grundzügen wird uns vermittelt, wie eine Einschränkung des Sichtfelds, sowohl als blinder Fleck in der Mitte, wie auch als eine Verengung von den Rändern aus, die Betroffenen beeinträchtigt. Da finden sich bei aller Nüchternheit der (quasi) medizinischen Texte und der Kriegsdetails auch poetische Momente, wie ein Parallelismus zwischen den Nervenbahnen an der Rückseite des Auges und einer Karte der Straßen um Kharkiv.

    Mykola Ridnyi stellt Verbindungen her zwischen den Besuchern der Ausstellung und allzuoft scheinbar weit entfernten Ereignissen, die uns aber alle betreffen. Heißt es Auge um Auge, dann sehen wir, wozu das führt.

  • Die Ausstellung „Loss of Vision“ von Mykola Ridnyi kann im Bozner Foto Forum noch bis 21. Dezember besucht werden. Geöffnet hat die Galerie von Dienstag bis Freitag zwischen 15 und 19 Uhr, sowie samstags zwischen 10 und 12 Uhr.