Bilanz eines ungenierten Machtmenschen
Als er vor einem Jahr im Senat zu seiner ersten Regierungserklärung antrat, hatte er wenige Tage zuvor Premier Enrico Letta unsanft aus dem Amt gedrängt. Sein Auftritt markierte den Anbruch einer neuen Ära. Das spröde, politische Kauderwelsch war unvermittelt aus dem geschichtsträchtigen Palazzo Madama verbannt, Matteo Renzi wandte sich nicht so sehr an die anwesenden Senatoren, als vielmehr an die Millionen Fernsehzuschauer, die neugierig die Rede des jüngsten Regierungschefs der italienischen Geschichte verfolgten. Mit einer Hand lässig in der Rocktasche, machte der 39-Jährige die Italiener mit seinen Vorstellungen über die Zukunft ihres Landes vertraut. In seiner 70-minütigen Rede ohne Manuskript brannte er ein wahres Feuerwerk ab, forderte Mut zu radikalen Entscheidungen und kündigte weitreichende Reformen an. Dabei übernahm er die volle Verantwortung für die Realisierung seiner kühnen Pläne: "Wenn wir diese Chance verpassen, bin ich allein schuld."
Meister der Ankündigungen
An die vollmundigen Ankündigungen ihres Premiers haben sich die Italiener inzwischen gewöhnt. Gescheitert ist Renzi freilich in seinem ersten Regierungsjahr nur, wenn man ihn an seinen überzogenen Ansprüchen misst. Sieht man von Propaganda und Selbstlob ab, kann er eine durchwachsene Bilanz vorweisen. Der selbstbewußte Turboreformer musste etliche Rückschläge hinnehmen und am eigenen Leib erfahren, wie tief verwurzelt in Italien der Widerstand gegen jede Veränderung ist. Zu den unbestrittenen Erfolgen Renzis gehören die 80 Euro in den Lohntüten der Unterbezahlten und die Senkung der Unternehmensteuer Irap um zehn Prozent. Die Reduzierung der Abgaben bei Neueinstellungen wirkte sich positiv auf den Arbeitsmarkt aus. Erstmals hat der Premier ein paritätisch aus Männern und Frauen besetztes und stark verjüngtes Kabinett mit 11 Newcomern vorgestellt. Vor wenigen Tagen zog er seine als jobs act angekündigte Arbeitsmarktreform durch und schaffte den heftig umstrittenen Artikel 18 ab - über Jahrzehnte ein unantastbares Heiligtum der Gewerkschafter. Die Justiz- und Schulreform stehen vorerst nur auf dem Papier. Dagegen kündigte Renzi am Wochenende überraschend eine Reform der RAI an, die den Staatssender dem Zugriff der Parteien entziehen soll. Spontaneität kommt bei ihm allemal vor Planung. Die zwei größten Brocken hat er noch nicht durchs Parlament gebracht: das neue Wahlrecht und die Verfassungsreform zur Abschaffung des Senats. Das Wahlrecht, gegen das sich die Opposition mit wütender Obstruktion stemmte, dürfte in Kürze von der Kammer verabschiedet werden, die Verfassungsreform im besten Fall bis Jahresende.
Kämpfer gegen politischen Stillstand
Renzi zeigt sich in seiner Amtsführung als ungenierter Machtmensch, aber er ist kein "uomo solo al comando", wie Kammerpräsidentin Laura Boldrini klagt. Seine Auftritte sind forsch, seine Gesetze häufig unorganisch. Sein verbissener Kampf gilt dem Stillstand, der die italienische Politik der letzten Jahrzehnte kennzeichnete. Und er gilt der byzantinischen Geschäftsordnung eines Parlaments, in dem die Verabschiedung eines Gesetzes rund viermal so lange dauert wie im Rest Europas und die Verrücktheiten gestattet wie die Vorlage von über 60.000 Abänderungsanträge zu einem einzigen Gesetz.
Der Vizepräsident der Abgeordnetenkammer Luigi di Maio von der Fünfsterne-Bewegung warf Renzi am Wochenende "mangelnden Respekt vor dem Parlament" vor. Und das wenige Tage nach den handgreiflichen Ausschreitungen im Senat mit Schlägereien, Sprechchören, Wurfgeschossen und hysterischen Auftritten aller Art. Trotz des zerbrochenen Patto del Nazareno mit Berlusconi kann Renzi optimistisch in die
Zukunft blicken. Denn die Partei seines alternden Gegenspielers ist tief zerstritten und könnte schon bald auseinanderbrechen. Die sinkende Arbeitslosenzahl, das steigende Sozialprodukt, die wachsenden Aufträge in der Industrie stärken ihm den Rücken, auch wenn sie nicht unbedingt sein Verdienst sind. Der Verfall des Ölpreises und der niedrige Eurokurs fördern das Wachstum zusätzlich. Vor wenigen Tagen hat die OECD Renzi ein unerwartetes Geschenk gemacht und Italiens Wahstumsprognose erhöht. Auch die jüngste Ankündigung, der Staat werde bis
September 150.000 Lehrer anstellen, ist seiner Popularität sicher förderlich.
Seine zahlreichen Gegner von links und rechts , die er als gufi e rosiconi verspottet, könnten sich an Renzi noch die Zähne ausbeißen - ganz nach Giulio Andreottis sarkastischem Motto il potere logora chi non ce l'ha.