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Aus Windrauschen und Finsternis heraus erhellt sich allmählich und nur schwach unser leerer Bühnenraum. Im zentralen Bühnenelement, einer mit halbtransparentem Schirm ausgestatteten Annäherung eines Berg-Chalets, das man sich wie jene kubisch-minimalistischen Strukturen vorstellen mag, die in der alpinen Landschaft meist als Fremdkörper ins Auge stechen. Im Bühnenraum machen wir bald Nebel, bald Schemen aus, die aus dem Off in die Halbsichtbarkeit treten. Der Wind stimmt um in langgezogene Drone-Klänge (als Komponist zeichnet für den Abend Alejandro Da Rocha) , die dem Geschehen einen losgelösten und meditativ-entschleunigten Charakter geben. Das Publikum braucht nicht mit plötzlichen Veränderungen zu rechnen und kann sich zu Beginn der 60-minütigen Vorstellung gewöhnen an Setting und die Bewegungsmuster der Choreographie von Antonio de Rosa und Mattia Russo.
Fünf Tänzern und drei Tänzerinnen von Kor’sia kommt eine Aufgabe zu, die ein wenig unmöglich zu sein scheint, aber fast gänzlich gelingt. Von Auftritt bis Abtritt muss jeder einzelne der selten vollzähligen, öfter in kleineren Gruppen auftretenden Interpreten eine Bewegung scheinbar ins Unendlichefortsetzen. Oft findet ein Richtungswechsel statt, jedoch nie ein ruckhaftes Umschwingen und stets eine sanftere Kurve. Stillstand ist im Aufsteigen der Berggipfel, welche der Kameraschwenk einer Projektion scheinbar aus dem Boden wachsen lässt, nicht vorgesehen. Ohnehin ist der Berg, den wir gezeigt bekommen, nicht der langgestreckte Mont Ventoux, der mit seinen bis zu 1912 Metern über dem Meer doch noch sanfter und grüner ist als das instinktive Bild, das beim Wort „Berg“ entstehen mag. Wir sehen einen steileren, felsigeren Berg als die einsame Erhebung in der Provence, die Francesco Petrarca am 26. April 1336 bestieg. Die einem Brief entnommene und in den Schul-Unterrichts-Kanon aufgenommene Schilderung der „Ascesa al monte Ventoso“, gemeinsam mit seinem Bruder Gherardo, schwingt auf ein Gefühl des Aufstiegs, des Strebens zu einem fernen, jedoch dauerhaft anwesenden Ziel, zu Gott oder einem Gipfel. Den „Mont Ventoux“ hatte Petrarca über mehrere Jahre, die er in Fontaine-de-Vaucluse, unweit westlich von Avignon verbrachte, als Teil des Horizonts gesehen. Jahre später schwingen auch der weitere Weg, der bereits 1312 von Florenz aus ins französische Exil, für Petrarcas Vater an den Hof des Gegenpapstes führen sollte, mit.
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Einen Aufbruch aus der meditativen Ruhe wagt das Stück nach etwa einer Viertelstunde und zeigt in sinnlichen Motiven und einer viel von starken Stroboskop-Effekten Gebrauch machenden Geste der Öffnung: Das zentrale Bühnenelement rollt gleichmäßig in den Hintergrund, die Berghütte schrumpft und ein Raum für Euphorie und Ekstase tut sich auf. Es beginnt auch ein Spiel mit den beiden Handlungsebenen, die hinter dem Chalet-Schirm langsam methodische und im Vordergrund raumgreifend kühne Bewegungen zulassen. Eine Art religiöser Entrückung und unwiderstehbarer Anziehung unter den Tänzern wächst mit einem zusehends härter werdenden Beat heran und die Abwesenheit von Stillen oder Leerlauf lässt eine Sogwirkung zu. Das Stück pulsiert und auch die rauen Bergflanken des Nicht-Mont Venteux werden im Flackerlicht zu pulsierenden Gefäßen.
Die wenigen Requisiten, die man mit auf die Bühne bringt sind eine ebenso verwunderliche, wie mit dem Gesamtbild unstimmige Mischung: Ein Einkaufswagen, aus dem der wie in einen Käfig gesperrte Körper einer Tänzerin schlaff und passiv herausgezogen wird, eine Ritterrüstung ohne Helm, die nur zum Ablegen angezogen wurde und überraschend einen nackten Körper preis gibt. Vom kompletten Abschotten der Außenwelt durch einemetallene Hülle, bis zu einer gänzlichen Nacktheit ist es nur ein Sprung und wenig später gipfeln die einzelkämpferischen Bewegungen und paarweisen Annäherungen aneinander in einer gemeinschaftlichen Gruppenpassage: Man greift synchron zu klassischeren Ballettgesten zurück und übt sich abermals in Entschleunigung.
Die Hütte tritt wieder an ihre Ausgangsposition und nach und nach tun es Klang und Bild auch. Mit einer Schlaufe schließt die tänzerische Apotheose, die uns einem Höhepunkt angenähert und uns sanft wieder ins Tal zurückgeführt hat. Die Berge, die dabei in einer rückläufigen Bewegung wieder im Boden verschwinden, überdauern ohnehin jeden Tanz, egal wie organisch und lebendig ihr Bild gezeichnet wird.
Tanz Bozen Bolzano DanzaHeute und morgen Abend stehen bei Tanz Bozen zwei spannende Uraufführungen auf dem Programm: Für „For Gods Only“, den lang erwarteten dritten Teil von Olivier Dubois Sacre Reihe wird dem Haydn Orchester unter Leitung Timothy Redmonds die Ausführung der Sacre du Printemps übertragen. Auf die Bühne des Stadttheaters tritt heute um 21 Uhr als Solistin die „étoile“-Tänzerin der Opéra de Paris, Marie-Agnès Gillot.
Morgen, ebenfalls um 21 Uhr, ist im Bozner Waltherhaus unter dem kurzen, klingenden Namen „U.“ die neueste Arbeit von Tanz Bozen Wiederholungstäter Alessandro Sciarroni zu sehen. Sieben Sängerinnen und Performerinnen werden in einer Mischung aus Gesang und Bewegungsabläufen rund sieben Jahrzehnte an Traditionen der italienischen Vokalmusik, ausgehend von den 50er Jahren und mündend im heute, durchleuchten.
Im Anschluss an beide Termine findet ein Künstlergespräch statt, das Festival Tanz Bozen endet am Samstag.